Der erste Juli Sonntag beginnt mit Wärme und einer wässrigen Sonne. Doch wir wissen aus der Zazen-Praxis, dass das Leben und somit auch das Wetter so ist wie es ist. Wir üben den gegenwärtigen Augenblick anzunehmen ohne Wenn und Aber. Wir wissen auch wie schwer dies oft ist. Manchmal ist es ganz leicht. Wir sitzen wie ein weißer Schwan. Dann ist es wieder ganz schwer. Der Schwan wird schwarz und schwer. Doch, es bleibt ein Schwan.
Im Shinjin inga, übersetzt „Tiefes Vertrauen in Ursache und Wirkung“ erzählt Dōgen Zenji eine Geschichte.
˃Immer, wenn der Zen-Meister Daichi einen Vortrag hielt, war ein alter Mann dort. Immer, wenn die Versammlung beendet war, verschwand er. Eines Tages jedoch blieb er. Der Meister fragte ihn: „Was ist das für ein Mensch, der da vor mir steht?“ Der alte Mann antwortete: „Ich bin kein Mensch. Vor langer Zeit, in den Tagen des Kāsyapa Buddha, war ich Meister auf diesem Berg. Eines Tages fragte mich ein Schüler: `Fällt selbst ein großer Praktizierender Ursache und Wirkung anheim? ` Ich antwortete ihm: „Er fällt der Ursache und Wirkung nicht anheim.“ Seitdem bin ich fünfhundert Leben lang immer wieder in den Körper eines wilden Fuchses heineingefallen. Nun bitte ich Euch, Meister, mir ein Wort zu sagen, das mich verwandelt. … Und dann fragte der alte Mann den Meister: „Fällt selbst ein großer Praktizierender Ursache und Wirkung anheim?“ Der Meister antwortet: „Sei dir über Ursache und Wirkung sehr wohl im Klaren.“ Bei diesen Worten erwachte der alte Mann. Er warf sich vor dem Meister nieder und bat ihn, den Fuchs, den er finden würde hinter dem Kloster mit allen Ehren zu bestatten.
Was ist hier passiert? Ich nenne es die Verdeutlichung der „klaren Wechselseitigkeit“. In unserem Alltag befinden wir uns meistens auf einer Seite der Lebens-Medaille. Emotional sind wir mal traurig, mal froh. Finanziell sind wir mal ausgelastet, mal überlastet. Familiär sind wir mal eng, mal weit. Unsere Körper, unser Geist ist manchmal gesund, manchmal krank. Doch, was bedeutet „klare Wechselseitigkeit? Was bedeutet es, die Fähigkeit von Ursache und Wirkung nicht zu vergessen?
Wechsel der Seiten, der Richtungen – doch, wo ist die “klare Wechselseitigkeit?
Normalerweise betrachten wir derartige Verbindungen von Ursachen und Folgen in der Verbindung mit der Außenwelt. Wir hören uns sagen, dass seine oder ihre Taten nicht ohne Folgen sind. Ein/e RaucherIn weiß um die Gefahr. Ein Freeclimer weiß ebenso darum. Ein Mensch, der sich schädlichen Stoffen auf der Arbeit aussetzen muss, weiß manchmal nicht um die Folgen, trägt sie dann aber. Asbest oder Lacke sind ein Beispiel dafür.
In der Zazen-Praxis bleiben wir jedoch nicht bei Ursachen und Wirkungen im Zusammenhang mit der Außenwelt verhaftet. Wir beobachten diese Ursachen und Wirkungen hier bei uns selbst. Bei unserem Körper, bei unserem Geist. Kommt der Gedanke xy bemerken wir, dass wir einen Schweißausbruch bekommen. Bei dem Schmerz in der Schulter merken wir, dass unser Herzschlag sich beschleunigt. Wir beobachten also auf kleinstem großen Raum unsere Ursachen – der Gedanke, das Schmerzempfinden – und die sofortige Aktivität als Wirkung – Schweißausbruch, Anstieg der Herzfrequenz. Ich zitiere noch einmal Dōgen aus dem oben genannten Text „[Ursache und Wirkung] [folgen] einander wie der Schatten einer Gestalt und wie die Schwingung einem Ton, und dass es auch nicht […] ein Tausendstel von Unterscheidung zwischen ihnen gibt.“ (Dōgen Zenji 2013, S. 239)
Was heißt jetzt „klare Wechselseitigkeit“ oder „sei dir im Klaren über Ursache und Wirkung“? Damit ist gemeint, dass wir weder zu sehr auf der einen noch zu sehr auf der anderen Seite wirken. Unsere Übung besteht darin, die Mitte zu halten, zu festigen, auszubauen, die „klare Linie“ sauber und klar bewegen. Da ist Ursache und Wirkung zum selben Zeitpunkt. Da ist der Wechsel der Seiten unsichtbar geworden. Wir bewegen uns genau auf beiden Seiten gleichzeitig. Das ist das Geheimnis von Zazen. Wir atmen ein. Wir atmen aus. Doch die Mitte, der Zeitpunkt, wo wir weder einatmen, noch ausatmen, wo wir einfach keinen Wechsel mehr vollziehen, gelingt uns der Augenblick des Zugleichseins auf beiden Seiten, die absolute Klarheit.
Diese Klarheit gilt nicht nur in dem Augenblick, in der wir sie bemerken, sondern sie gilt immer, auch wenn wir sie nicht bemerken. Doch der Wechsel von den beiden Seiten schwingt uns immer wieder weg von diesem Punkt der „klaren Wechselseitigkeit“ oder der „Klarheit von Ursache und Wirkung“, so dass wir mit jedem Schwung in eine Richtung eine Ursache mit gleichzeitiger Wirkung setzen.
Diese Momente enden nicht. Selbst wenn wir sterben, was im Sinne der Ungetrenntheit identisch ist mit dem leben, endet die „klare Wechselseitigkeit“ und deren Schwingen in die Richtungen nicht. Wir haben nicht mehr dieselbe Gestalt und Form, aber wie sagt Shunryu so schön: „Wenn jemand stirbt, dann mögt ihr sagen, er sei nicht mehr – aber ist es möglich, daß etwas völlig verschwindet? Das ist nicht möglich, genausowenig, wie es möglich ist, daß etwas plötzlich aus dem Nichts auftaucht. Etwas, das hier ist, kann nicht völlig verschwinden. Es kann seine Form ändern, das ist alles. Wir sind also immer eins.“ (Suzuki 2008, S. 181)
Unsere Zazen-Praxis ermöglicht uns daher, immer wieder neu, die „klare Wechselseitigkeit“ sehen zu lernen, um so, so wenig wie möglich uns selbst und anderen weh zu tun. Ja, und dann sind wir wieder beim Herz-Sūtra. Da der Bodhisattva des unbegrenzten Mitgefühls um diese „klare Wechselseitigkeit“ weiß, weiß er auch um die Bedeutung und Größe dieser eigentlich ganz einfachen Übung von Zazen. Sich einfach hinsetzen, schweigen, beobachten, den Atem zählen, sich mit dem Atem vereinen, sich nicht bewegen, um uns dieser „Klarheit“ von Ursache und Wirkung anzunähern, die unser ganzes Leben klärt, ohne dass wir uns besonders anstrengen müssten. Wir sitzen einfach nur und der Himmel öffnet sich von selbst.
In diesem Sinne wünsche ich uns allen einen schönen Sonntag.
Ich freue mich weiter auf unser Üben. Möge der Himmel nicht über uns, sondern in uns aufgehen, sich aussäen und vermehren. Für alle!
Tiefes Gassho
Ellen