Irgendwie ist das Leben seltsam. Karneval ohne Umzüge und Prunksitzungen. Aschermittwoch, einer der höchsten Feiertage der Kirchen in fast leeren Kirchen. Nur nach Anmeldung darf die Kirche besucht werden. Absperrungen regeln die Menge der Menschen.
Gleichzeitig bevölkert sich mein Haus mit drei weiteren Menschen. Meine Schwiegertochter. Zwei Kinder. Fünf Monate und drei Jahre. Jetzt Freitag stellte der Kinderarzt fest, dass die Kleine doch an der Niere operiert werden muss.
Gleichzeitig fühle ich in mir ein Gefühl emporsteigen von Verlust an Lebenslust. Was ist das?
Ich meditiere und höre in mir die Stimme: Greife zum tibetischen Totenbuch. Ich tue es. Ich schlage die erste Seite auf. Ich lese die erste Zeile und jetzt wundert euch nicht:
„Mach dich frei von Lebenslust“.
Genau das Gefühl, das ich empfinde, wird hier nicht als etwas Negatives empfunden, sondern als ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einem Leben, dass im Vers so endet:
„Ruhig und heiter zieh deines Weges“.
So stehe ich nun auf, ziehe ruhig und heiter meines Weges. Es bedarf keiner Lebenslust, keiner Wonnen, sondern das einfache Gehen, das einfach Sitzen, das einfach Hier-Sein.
Es bedarf dieses einfach „Geschehen lassen“ als ein unbegrenztes Ja, das keine Begrenzungen kennt.
Eine Welt, wie die derzeitige, die meint durch Begrenzungen, der Welt und den Menschen helfen zu können, befindet sich wie es im Vers heißt auf den Wegen von:
„Dünkel, von Unwissenheit und der Zerstreuung Wirrsal“.
Es gilt nicht auszusperren, sondern einzuschließen. Ein Virus taucht auf, verschwindet nie wieder. Ein Mensch taucht auf, verschwindet niemals wieder. Ein Gedanke setzt sich in eine Maschine um, verschwindet nie wieder. Wir verwandeln unsere Formen, unsere Gestalten. Vor 100 Jahren sah ein Auto anders aus als heute. Vor 1000 Jahren pflügte der Pflug mit der Körper- oder Ochsenkraft. Vor 2000 Jahren betrat man den Fluss zum Waschen. Die Gedanken des Menschen formen und verändern die Welt von Nanosekunde zu Nanosekunde tausendfach. Nichts davon verschwindet. Es verändert sich einfach. Auf diese Kraft baut der Mensch die Welt. Das Vertrauen in diese Kraft versetzt Berge. Das Vertrauen in die menschliche zusammenhaltende Kraft formt die Welt. Eine Kraft, die verändert und permanent gestaltet. Jeder Ausschluss bedeutet, Begrenzung.
Doch, vielleicht ist gerade die Kraft des Virus ein Hinweis für uns Aufzuwachen, was im Vers so steht:
„Zerreiß die Bande; nur so erreichst du wirklich das Ende der Pein. Wirf von dir die Kette von Geburt und Tod – du weißt, was sie bedeuten.“
Hier ist das Vertrauen in das eigene Wissen, unseres eigenen Körpers und Geistes. Keine Angst vor dem Tod. Keine Angst vor dem Leben. Ein jeder Mensch vertraut auf seine ihm innewohnende Kraft, macht sich unabhängig von einer Macht, die scheinbar nur für ihn handelt und bestimmt wie zu Leben ist. Welche Kraft soll den wohin führen? In die Zufriedenheit aller Menschen? In die Erhaltung von Natur und Kosmos? In die digitale Welt ohne menschliche Nähe? Kinder aus der Retorte? Alte Menschen und Robotik? Krankenpflege und Computer? Wo sind die Erkenntnisse von Psychologie, Pädagogik, von Soziologie und Quantenphysik, von der Humanität?
Hier steht „Zerreiß die Bande“, löst euch von Begrenzungen, Beengungen, Verengungen, Einschnitten, die das menschlich Sein zum Erliegen bringen.
Wenn wir als individueller Mensch dies angreifen, uns trauen, uns und unserer eigenen Stimme, dann sagt der Vers:
„So, von Verlangen befreit, sollst du im Erdenleben ruhig und heiter ziehn deines Weges.“
Ja, das Verlangen nach Gesundheit, das Verlangen nach ewigem Leben, das Verlangen nach Bedürfnisbefriedigung, das Verlangen nach…, immer wieder Verlangen nach…- genau dies ist stets zu hinterfragen.
Die kleine Kalea, die Mittwoch operiert wird, hat nicht verlangt, krank zu sein, dennoch geht sie ihres Weges, egal, wie dieser aussieht. Sie tut dies mit uns allen an ihrer Seite, so dass ihre eigene Stimme ihr sagen kann:
Ja, befreit von allem Verlangen, ziehe ich ruhig und heiter meines Weges.
Dies wünsche ich allen Menschen auf der Erde. Im Schmerz das Verlangen sterben zu lassen. In der Gier, das Suchen zu vergessen. Im Zustand der Macht, die Mächtigkeit abzugeben. Das ist Vertrauen. Das ist Menschlichkeit.
Der Vers heißt:
- Verzicht
Mach dich frei von Lebenslust, von Dünkel,
Von Unwissenheit und der Zerstreuung Wirrsal;
Zerreiß die Bande; so nur erreichst du
Wirklich das Ende der Pein. Wirf von dir die Kette
Von Geburt und Tod – du weißt, was sie bedeuten.
So, von Verlangen befreit, sollst du im Erdenleben
Ruhig und heiter ziehn deines Weges.
(Der Buddha, Psalmen der frühen Buddhisten, I, Ivi, Das tibetische Totenbuch, Walter Sonderausgabe 1995, S. 17)
Alles Gute für alle Menschen!