Neue Wege gehen

Beim erneuten Lesen und Nacharbeiten des Buches von Merlin Sheldrake „Verwobenes Leben“

begegnete ich dem Verwobensein der Organismen. Zwei Anthropologinnen, Wissenschaftlerinnen, die sich mit dem Leben des Menschen beschäftigen, sprechen von einer „Involution – von einem Einbeziehen“.

„Während der gesamten Menschheitsgeschichte war die Partnerschaft mit anderen Organismen sowohl für Menschen als auch für alle anderen Lebewesen von großer Bedeutung. Die Beziehung des Menschen zum Getreide brachte neue Formen der Zivilisation mit sich. Die Beziehungen zu Pferden ermöglichten neue Formen des Transports. Die Beziehungen zu Hefe erlaubten neue Formen der Produktion und Verbreitung von Alkohol. In allen Fällen definierten die Menschen und ihre nicht menschlichen Partner neue Möglichkeiten. […] Die Anthropologinnen Natasha Myers und Carla Hustak […] schlagen […] das Wort ›Involution‹- von ›einbeziehen‹ […] vor. […] Für sie beschreibt der Begriff Involution viel besser das verwobene Schieben und Ziehen von ›Organismen, die ständig neue Wege erfinden, um mit-und nebeneinander zu leben‹.“ (Sheldrake 2020, S. 214)

Wenn wir jetzt unser aller Leben betrachten, gerade jetzt, was geschieht heute hier und jetzt in unserer aller Welt? Ist die Frage des Einbeziehens noch in unserer aller Geist oder existiert nur das Aussondern, Abtrennen, Abschieben, Outsourcen, Verinseln und Wegnehmen?

Derzeit werden Angst-Mauern gezogen zwischen Geimpft und Nicht-Geimpft. Es bestehen Trennwände zwischen Behindert und Nicht-Behindert. Es werden Räume für Sterbende und Lebende geschaffen. Kinder leben auf Inseln, die den Namen Kindergarten, Schule, Betreuung heißen. Eine gelöste Verbindung des verbundenen lebendigen Lebens nach dem Anderen. Wie sehen wir diese Räume? Nehmen wir sie wahr? Was bedeuten sie für eine Gesellschaft, für ein Land, für eine Welt?

Menschen sind unterschiedlich. Menschen können diese unendliche Vielfalt nutzen und sie können sie verdammen. Manchmal habe ich gerade derzeit das Gefühl, dass die Vielfalt der Organismen eher als Hindernis, als Bremse, als Schaden betrachtet wird, die einem lediglich Angst macht, aber sonst keinen Effekt kennt. Was sehen wir jedoch nicht, wenn wir nur zur Angst schauen? Was verbirgt sich hinter jeder einzelnen Angst? Welche Welt, fragte Chomsky, wollen wir? Eine Welt, die in immer kleinere Räume zerteilt wird? Eine Gesellschaft, deren Familienbande sich auflösen, weil Krank-Sein und die Möglichkeit sowohl des eigenen als auch das Sterben eines Liebgewonnen Schmerzen bereiten könnte?

Doch gerade die Vielfalt hat die Menschheit dahin geführt, wo sie heute steht. Gerade die Vielfalt entfaltet Lösungen, Möglichkeiten, die eine Chance sind, Schwierigkeiten zu lösen. Gerade die Vielfalt sorgt für Entwicklung, ermöglicht das Fortbestehen des lebendigen Lebens. Heute las ich im Wochenspiegel von Coburg, dass Edison am 4. September 1882 nach vielen Jahren das erste Stromnetz für einen Bereich in New York schaltete. Das ist eine Antwort der Vielfalt.

Ob wir Tierarten aussterben lassen, Völker ausrotten, Natur und somit Insekten- und Pflanzenwelten zerstören, ist nicht unwichtig oder egal. Ein jedes Wesen steht für Vielfalt, für Kraft, für Energie, für Lebendigkeit, für Welt. Immer nur auf ein Teil zu sehen, immer nur Reduktion zu betreiben ohne die Gesamtheit des Lebendigen im Blick zu haben, es an die erste Stelle des Handelns zu setzen, verlieren wir wertvolle Kräfte, die all unsere Fragen zu Energie, Wasser, Luft, Arbeit, Wohnen, Gemeinschaft leben, jung und alt, sterben und leben, Sprachen und Völker mit beantworten. Unser aller Leben hängt von dem Zusammenleben aller Organismen ab. Kein Steak ohne Heu. Kein Soja ohne anbauenden Hände. Keine Abwasserentsorgung ohne Leitungen. Keine Früchte ohne Wind und Insekt.

Gerade in diesen letzten eineinhalb Jahren konnten wir zusehen, wie sehr die Welt zusammenhängt. Jegliche Trennung löste sich in Luft auf. Diese winzig kleinen Wesen, die der Gruppe Viren zugeordnet werden, kennen keine Grenzen, weder staatliche noch menschliche. Es ist ein lebendiges Leben wollendes Wesen und es sucht sich seinen Lebensraum. Das wir vielleicht wie vor hunderten Jahren wie bei der Pest mit Schuld daran sind, dass diese Situation entstand, scheint fraglich. Denn, was sollten wir daran für eine Schuld tragen? Die Pest wurde doch von Ratten übertragen, aber Ratten gab es, weil die Abwässer auf den Straßen standen. Niemand machte sich Gedanken darum. Niemand schaute hin, dass dies vielleicht doch auch anders gehen könnte. In München ging Max von Pettenkofer neue Wege. Viele Hindernisse hatte er dabei zu überwinden.

Ist es nicht im Angesicht derartiger möglicher Perspektiven mehr als bedenklich, Grenzen dicht zu machen, das Sterben von Millionen von Menschen in Kauf zu nehmen, die nicht an dem Virus erkranken, sondern verhungern, an anderen Krankheiten wie vermehrt an Pocken (Indien) sterben, anstatt neue Wege zu beschreiten? Ist Impfen noch eine Antwort im 21.Jahrhundert? Sind nicht andere Wege denkbar, vorstellbar, erreichbar? Unsere körperliche und psychische Welt hält da eine unendliche Welt parat. Sollten wir nicht hinsehen, ob es nach 200 Hundert Jahren Impfen nicht noch andere Wege gibt?

Leiden der Menschen sind Leiden von Tieren und von Pflanzen. Wir hängen aneinander. Wir sind nicht unabhängig voneinander zu sehen. Ein blühender Baum in China ist genauso wichtig wie das Leben des an Aids- Erkrankten Kindes in Afrika. Sie sind menschliche Welten, deren Himmel und Erde mehr als deutlich Grenzenlosigkeit zeigt. Oder haben Sie schon einmal einen begrenzten himmlischen Kosmos gesehen?

Erst der Zusammenhalt von allen, löst unsere wirklichen Schwierigkeiten. Seltene Erden, Ressourcen wie Wasser und Luft sind keine Verkaufsschlager, sondern sind Leben. Was tun wir, wenn wir sie von uns abtrennen? Erschaffen wir so nicht erst die Möglichkeit darüber zu verfügen? Wäre hier ein Denken und Handeln von neben-und miteinander, würden wir dann nicht andere Wege gehen und Entscheidungen treffen?

Keiner von uns kommt mehr ohne Handy und Computer aus. Doch, dies erfordert Energie. Dies erfordert Material. Dies erfordert ein Speichermedium. Dies sind keine Dinge, die aus dem Himmel fallen. Es sind Dinge unserer aller Welt. Wir leben zusammen. Zerstören wir die Dinge und bauen uns einer Bilderwelt in Computerwelten auf, so scheint dies realistisch, aber es sind und bleiben nur Bilder.

Bilder sind nicht essbar, nicht fühlbar, nicht schmeckhaft, nicht riechbar, nicht hörbar. Das Einzige, was Bilder uns bieten, ist eine Sichtbarkeit. Und bei genauem Hinsehen können wir sogar erkennen, dass diese Bilder nicht einmal einer wirklichen sichtbaren Welt angehören, sondern nur Zahlenfolgen sind, die einer Rechenfolge folgt und somit nicht einmal verändert werden kann. Dieses eine Bild ist dieses eine Bild. Eine Variation spontan aus einem unmittelbaren Erleben existiert hier nicht. Dies würde eine neue Berechnung voraussetzen, die erst geschrieben werden muss.

Spontanität, Impulsivität, Intuition, Direktheit, Unmittelbarkeit, Echtheit erleben, frische Lebendigkeit, ursprüngliche Lebendigkeit verliert an Kraft. Doch genau diese Kraft hat über Jahrmillionen uns alle hervorgebracht. Die Teile-Welt wie bei einer Zoom-Konferenz, in der Oberkörper und Köpfe einander sehen, aber wir keinen Geruch, Geschmack, keinerlei hörbare Körperbewegung uns von dieser anderen menschlichen Welt mehr begegnet, macht unsere Welt so klein wie sie vielleicht noch nicht war, seid wir Menschen unser aller Welt beleben.

Wenn eine Diskriminierung, wenn eine Aussonderung, wenn eine Ausnahme zur Regel wird, was bedeutet dies für unsere Welt? Was passiert mit uns Menschen gerade? Was hindert den Menschen, die freie Entscheidung eines Menschen nicht zu respektieren, zu akzeptieren, zu bejahen? Was hindert den Menschen, eine andere Überzeugung zu vertreten? Menschliche Fragen! Philosophische Fragen! Sichtbar mehr als deutlich jetzt.

Haben wir Menschen wirklich völlig vergessen, dass diese Welt, auch die menschliche Welt mehr ist als Material? Ist MINT (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) die ganze Welt? Wo ist KLIPH (Kunst, Literatur, Philosophie)? Was wäre, wenn KLIPH gleichberechtigt behandelt würde? Was wäre, wenn es KLIPH auch gäbe? Denn vielleicht wissen Sie es nicht, KLIPH kennt keine Schule, kein Ministerium, weil es nicht existiert. Was bedeutet dies für eine menschliche Gesellschaft?

Jeder Mensch weiß um seine Nicht-Materialität, denn wer von uns hat schon jemals seine eigenen Gedanken gesehen? Wer von uns hat sein Gefühl schon gesehen? Wer von uns hat seinen Geschmack, Geruch, Gehör, Schmerz, Freude, Glück, Trauer schon gesehen? Wir kennen nur einen Ausdruck, jedoch kein Bild. Die geistige Aktivität, deren Kraft die Unmittelbarkeit ist, der schnell auftauchende Gedanke, das in Sekundenschnelle Aufleuchten eines Gefühls, das Wahrnehmen eines Geräusches, all dies ist unsichtbare Kraft. Was verlangen wir also von uns Menschen, wenn wir plötzlich, die Entscheidung eines Menschen nicht mehr bejahen, wenn wir seine Entscheidung zwingen wollen, das Gleiche zu tun wie du selbst es tust, was verlangen wir hier?

Es ist das Aufgeben von Vielfalt, von der geistigen Kraft der Freiheit, die sich ausdrückt in Mannigfaltigkeit, in Spektren, in unterschiedlichen Räumen, in vielfältigem Reichtum. Schränken wir uns weiterhin mit Verordnungen ein, schützen wir uns nicht mehr, sondern machen uns kränklich und klein. Dann reicht ein Windstoß und wir fallen um. Kraft und Stärke entsteht durch Vielfalt, durch Verwoben-Sein, wie Sheldrake sagen würde, durch die Bejahung des vollständigen Lebens und nicht nur von Teilen. Zu einem Mit-und Nebeneinander gehört das Kennenlernen wollen dieser anderen Lebensform, das Mitteilen, einfach das Lernen wollen. Neugier. Mut. Selbstständige Fragen und selbstständige Antworten. Nicht Wissen vor Wissen, denn das hält neugierig, das bewahrt vor Vorurteilen.

Wenn wir in der Zazen-Meditation sitzen, erfahren und erleben wir genau dies. Wir sehen die Verwobenheit Atemzug für Atemzug. Ohne Luft von außen keine Luft innen. Ohne Ausatmen von innen nach außen kein Überleben einer einzigen Zelle. Ohne aufrechtes Sitzen kein freier Atemraum. Wir sehen die Vielfalt Moment für Moment. Jeder Atemzug ist anders. Jeder formt sich anders, tut, was gerade notwendig ist. Diese Formung geschieht ganz von allein. Die Lösung liegt im Tun des Atems. Ihn Tun lassen, was zu tun ist. Je mehr wir regeln wollen, je mehr wir steuern wollen, je mehr wir meinen die Richtung vorgeben zu müssen, um so mehr entfernen wir uns von der einfachsten und intuitiv sofortigen richtigen Antwort.

Der eigenen Kraft zu begegnen, ist mit Zergliederung in Teilen nicht möglich, denn die Kraft ist immer schon vollständig. In diesem Sinne lassen sie uns doch einfach einmal neue Wege gehen. Wege, die nach fast 20 jähriger Vereinzelung und Teilung der Menschheit wieder die Gesamtheit im Auge hat. Ist wirklich ein Mensch allein lebensfähig?

Die Gesamtheit der Welt, ein Welt-Bürgertum eines Humboldts :„Wenn wir eine Idee bezeichnen wollen (…), so ist es die Idee der Menschheit, das Bestreben, die Grenzen, welche Vorurteile und einseitige Ansichten aller Art feindselig zwischen die Menschen gestellt, aufzuheben und die gesamte Menschheit ohne Rücksicht auf Religion, Nation und Farbe als einen großen, nahe verbrüderten Stamm, als ein zur Erreichung eines Zweckes, der freien Entwicklung innerer Kraft, bestehendes Ganzes zu behandeln. Es ist dies das letzte, äußere Ziel der Geselligkeit und zugleich die durch seine Natur selbst in ihn gelegte Richtung des Menschen auf unbestimmte Erweiterung seines Daseins“. Eine Bürger-Gesellschaft von Paul Feyerabend. Eine Welt, die nicht nur wirtschaftlich aus Geldinteressen zusammenwächst, sondern eine Welt, die menschlich zusammenwächst. Eine Welt, in der die Menschen sehen und erfahren, dass sie niemals getrennt sind von anderen und dass diese eine Welt unserer aller Welt ist, für die es sich lohnt neue und andere Wege zu gehen. Wege, die die Verantwortung kennen. Wege, die die Akzeptanz und Respektanz des Anderen, egal ob Mensch, Tier, Pflanze als das Höchste einschätzt.

Ich wünsche uns allen einen menschlichen Reichtum, der sich in einem menschlichen Tun übersetzt. Der Philosoph Ortega y Gasset schreibt vom Menschen als utopischen Wesen, dass der Mensch durch das, was er tut, durch sein Verhalten sich erhebt. Aus diesem Grunde solle er immer wach-sam auf sich selbst sein.

Genau dies ist die Übung der Zazen-Praxis, wachsam auf sich selbst sein. Nur so können wir lernen, uns selbst zu erkennen, zu verstehen und je mehr wir von uns selbst erfahren, je mehr erfahren wir das Mensch-Sein und somit Welt-Sein.

Daher bitte ich uns alle als menschliche Wesen: Vergessen wir nicht, dass wir Menschen sind mit der Achtung und Würde mit und neben allem lebendigen Sein!

Spiegelgespräche von Rudolf G. Binding

Mein Freund Thomas schenkte mir dieses kleine Büchlein, das 1949 veröffentlicht wurde, zum Geburtstag. Es gibt nicht viele Bücher, die mich so reizen, dass ich sie nicht aus der Hand lege. Dieses ist eines von ihnen. Eine junge Frau sitzt vor ihrem Ankleidespiegel. Ein Mann holt sie dort einmal in der Woche ab. Sie gehen gemeinsam ins Theater, weil der Ehemann der Frau immer sehr beschäftigt ist.

Eines Tages lässt die junge Frau den Spiegel etwas verrücken!

An diesem Tag sieht sie in ihrem Spiegel eine neue Welt, eine nie gesehene Frau. Der Mann, der sie abholt, beginnt mit ihr die Spiegelgespräche zu führen. Was macht ein Spiegel mit den Menschen? Wozu verführt er? Was verdeckt er? Was ist unsichtbar in ihm?

Wie viele Spiegel sehen wir überhaupt? In welche schauen wir hinein? Welche lehnen wir ab?

Hier ein kleiner Ausschnitt, den ich besonders für unsere Zeit aktueller denn je finde.

„Es käme also darauf an, den Spiegel zu überwinden?“, fragte die Frau. „Darauf käme es nicht so sehr an, also das Spiegelbild, das Bild des Menschen, an das er verhaftet ist, zu überwinden. … Des Menschen Bild ist die Fessel, die ihn an seine Gestalt bindet und ihm die Entwicklung einer höheren nicht erlaubt.“ „Wie meinen Sie das?“, fragt die Frau. „Ich meine, dass das Bild des Menschen als Verhaftung ihn hindern wird, Flügel zu bekommen…. Die Menschheit schwächt sich durch jede Hemmung des Spontanen, des Kraftvollen. … Die Energien, die jenen jungen Adler glichen (Hinweis auf das Aufwachsen junger Adler vorher und wie sie fliegen lernen, E.W.), sind vertan. Die großen Leidenschaften sind ausgestorben. Die brennenden Sehnsüchte sind erloschen. Die hohen Gefühle verlacht. Nur aus einer Schwäche – nothaft, in Not – nicht aus seiner Kraft erhebt sich der Mensch noch; und so vermag er sich schließlich um nichts mehr zu erheben als um seinen täglichen Lohn, um Geld und heimlich elenden Nutzen, um Macht und Machtähnliches, um ein paar Guttaten, die nicht seinem Ausstieg gelten, um dieses elende Menschenwerk unserer Zeit, wo wenige Große sind und Große nur wenige. Die Adern des Zorns und des göttlichen Stolzes sind vertrocknet. Kein Mann errötet mehr vor Scham, nicht mehr zu sein als jeder, und die Liebe macht niemanden mehr heiß. Die Säfte des Blutes sind blaß. Die Triebe des Lebens sind hochgebunden, sonst kröchen sie welk am Boden hin und keiner trüge sich selbst. Die Menschen fühlen sich nur noch im Stützwerk von Rechten und Organisationen stark, und wenn es der einzelne ist: auch er tritt vor den Spiegel und den Spiegel – und wenn er nicht aus Glas ist, ist er aus gläsernen Urteilen anderer gebildet …. Denn das Göttliche ist das Spontane des Kraftvollen ohne Festlegung in die augenblickliche Form …. In diesem Augenblick würde der Spiegel sinnlos.“ (97-103, 1949)

Was ist der Spiegel? Der Spiegel ist jedes und jeder. Er ist das Hinausschauen und sehen des Gewohnten. Auf einer philosophischen Veranstaltung mit dem wunderschönen Namen „Denkinsel“ in Kitzingen, gegründet und aufgebaut von Thomas Schneider, sagte ein Teilnehmer: „Die Wahrnehmung des Menschen ist aber doch ganz objektiv. Dieser Fußboden ist doch orange.“

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Thomas Schneider, Denkinsel Kitzingen, Gespräche auf der Parkbank.

Ich war so verwundert, dass in unserer heutigen Zeit, jemand sagt, dass die Wahrnehmung objektiv sei, da die Wissenschaft seit vielen Jahren belegt, dass kein Mensch dasselbe sieht. Es sind Konventionen, Übereinkünfte, die die Menschen trafen, um miteinander reden zu können, Entwicklungen voran treiben zu können und Inhalte bewerten zu können. Aber dies sollte allen Menschen klar sein, dass die Welt, in deren Spiegel wir heute schauen, nicht objektiv ist, sondern eine auf Konventionen beruhende Welt ist, während die Wahrnehmung jedes einzelnen Menschen so individuell ist wie sein Fingerabdruck. Hier sei der wunderbare Aufsatz von Thomas Nagel, Wie es ist eine Fledermaus zu sein?, zu empfehlen.

Wenn wir die Welt also wieder als das einsetzen, was sie ist, nämlich als Spiegel, dann können die Menschen das Spiegelbild erkennen und überwinden lernen. Solange dieser Spiegel als Realität hinhält, übersieht der Mensch sein wirklich großes Potenzial des Seins. Seine intuitive Kraft, seine Spontanität, seine Öffnung von Festlegungen, seine Auflösungskraft von Konventionen, so dass wieder Leidenschaft entstehen kann. Leidenschaft und „göttlicher Zorn“ für ein menschliches würdiges Sein.

Die Welt der Kunst ist so eine Welt. Sie lebt von der Kraft der Intuition, von der Kraft der Spontanität, von der Kraft der Authentizität. Diese Welt auf ein Minimum zu beschränken, so wie jetzt derzeit, bedeutet die Spiegelbilder erstarren zu lassen, die lebendige Lebenskraft welken zu lassen.

Was macht das mit den Menschen? Die Menschen schauen in das Spiegelbild und sehen eine Realität, die sie für wahr halten, aber wenn sie wirklich hinschauen, kann ihnen das geschehen, was der Frau in Bindings Erzählung passierte: „Ich habe mich das erste Mal in meinem Leben selbst besehen.“

Dieser Moment ist die Wendung vom Spiegelbild weg zur wirklichen Realität. Dieser Augenblick ist nicht unbedingt schön. Die Frau beschriebt ihn so: „Mir ist etwas Unerwartetes, vielleicht Schreckliches begegnet.“

Ja, es ist unerwartet. Ja, es ist ein Schreck. Denn in dem Moment, wo das Spiegelbild fällt, das Bild, das wir alle so gut kennen, dann fallen wir ins Bodenlose, jegliche Sicherheit geht verloren, alles wird fragwürdig, nicht ist mehr fest. Einen solchen Moment zu erleben, bedeutet „Mensch werden und menschliches Sein lebendig auferstehen zu lassen“. Die Festlegung der Form fällt. Jetzt ist alles frei. Die Spontanität öffnet ihre Tore. Jetzt ist der Augenblick der weisen Entscheidung. Halte ich die Tür auf und gehe hindurch oder schließe ich sie wieder, weil dieses Bodenlose, diese Unsicherheit – welcher Mensch kann sie denn ertragen?

Die Frau in der Erzählung entschied sich für einen spiegellosen Tag und sie erzählt: „Nach einem ganz spiegellosen Tag habe ich meinem Gatten wieder in die Augen gesehen: als wäre e r mein Spiegel. Ich habe – wie soll ich es ausdrücken – ich habe mir den Mut genommen, w i e d e r zu lieben.“

Ich wünsche uns allen in diesen seltsamen Zeiten, den Spiegel einen Tag beiseite zu legen und den Mut zu haben, wirklich menschlich Mensch zu sein:

  • keine Zahlen mein Leben bestimmen zu lassen,
  • keinen angstmachenden Nachrichten glauben zu schenken,
  • keine Wenn-Geschichten für Wahrheiten zu halten,
  • keine Distanz für Menschlichkeit zu halten,
  • keine Masken als Natürlichkeit zu betrachten?
  • keine Menschen in Würdelosigkeit allein zu lassen
  • keine kranken und alten Menschen einsam zurück zu lassen
  • keine Menschen ihren Lebensinhalt verlieren zu lassen
  • keinen Kindern die Chance der kindlichen Entwicklung in einer gesunden Gesellschaft nehmen zu lassen
  • und und und.

Den Spiegel einen ganzen Tag überwinden, sich der Unsicherheit, dem Erschrecken stellen, nicht weglaufen, sondern wieder Größe, Göttlichkeit, Menschlichkeit auferstehen zu lassen. Wir erlauben uns, den Spiegel zu verrücken. Es geschieht ein Wunder. Lasst es uns doch einfach tun und zuschauen, was geschieht. Neugierig. Mutig. Menschlich. Fehlerhaft. Aufrichtig. Ja, stolz ein fehlerhafter Mensch mit liebevollem Herz zu sein.

Das nennt sich Vertrauen in die Menschlichkeit. Das nennt sich Liebe zum Leben.

Das Spiegelbild ist immer eine Verzehrung, eine Verdrehung, eine Starrheit, aber wir Menschen sind Menschen, weil wir die Fähigkeit haben, Spiegel Spiegel sein zu lassen, uns umdrehen können und die Wirklichkeit sehen können wie sie wirklich ist.

Große Menschen machten und machen es uns vor.

Ein Al Halladsch, ein Jesus, ein Buddha, ein Mohammed, eine Mutter Theresa, eine Jeanne d’Arc, eine Marie Curie, eine Elisabeth Kübler Ross, eine Maria Montessori.

Und mit Maria Montessori: „Hilf mir, es selbst zu tun“. Ja, da kommen wir nicht drum herum. Wir müssen es selbst tun. Und sollten wir Menschen kennen, die den Spiegel fallen gelassen haben, sollten wir diese aufsuchen, denn sie wissen aus Erfahrung, welche Bedeutung dies für das Leben hat. „Hilf mir, es selbst zu tun.“

Auch der Weg der Zazen-Meditations-Praxis. Hier der Hinweis auf mein Zen-Seminar

am Samstag, den 7. November 2020 von 10-16 Uhr, „Die weise Entscheidung“.

Anmeldung und Informationen 09563 54 90 391 oder info@co-philosophie.de