In den letzten Tagen des alten Jahres und den ersten Tagen des neuen Jahres war die Familie meines Sohnes zu Besuch. Mein Enkelkind Linus, fast drei Jahre alt, hört gerne Geschichten.
Ich las ihm aus Biene Maja vor. Kassandra, die Lehrerin der Biene Maja, setzte Maja in ihrer ersten Ausbildungseinheit mit folgendem auseinander. „Die erste Regel, die eine junge Biene sich merken muss, ist, dass jede in allem, was sie denkt und tut, den anderen gleichen und an das Wohlergehen aller denken muss. Es ist bei der Staatsordnung, die wir seit undenkbar langer Zeit als die richtige erkannt haben und die sich aufs Beste bewährt hat, die einzige Grundlage für das Wohl des Staates.“
Kassandra sagt, dass wir allen anderen gleichen und dies eine gute Grundlage für den Staat sei. Wie wenig denken wir derzeit an all die anderen?
Was ist mit Obdachlosigkeit? „Ein Mann mit grauem Bart. Seit vier Jahren lebt er auf der Straße. Schlimme Zeiten habe er erlebt, „aber das, was jetzt ist, ist ganz schlimm.““
Die Zahl der Hungernden auf der Welt steigt.
„37 Länder werden bis 2030 an der Herausforderung scheitern, ein niedriges Hungerniveau zu erreichen, prognostiziert die Welthungerhilfe. Denn während der prozentuale Anteil derer, die ihren täglichen Kalorienbedarf nicht decken können, stagniert, steigt ihre absolute Zahl an. So blieb der Anteil der unterernährten Menschen an der wachsenden Weltbevölkerung seit 2018 konstant bei 8,9 Prozent. Gleichzeitig stieg die absolute Zahl der Hungerleidenden seit 2018 um zehn Millionen auf nunmehr 690 Millionen Menschen an. Vor fünf Jahren waren es noch rund 630 Millionen Menschen gewesen.“
Weltweit hungern knapp 821 Millionen Menschen. Von diesen Hungernden sind ein großer Teil Kinder. Vielleicht hätte eines der verhungernden Kind die Lösung für die Wasserprobleme der Weltbevölkerung!
„Am 17. September veröffentlichte „Save the Children“ eine Untersuchung mit dem Titel „150 Millionen Kinder durch Covid-19 zusätzlich in Armut gestürzt“. Armut wird dabei definiert als multidimensionale Armut, das heißt, wenn ein Kind keinen Zugang zu Erziehung, Gesundheit, Wohnung, Ernährung, sanitäre Anlagen oder Wasser hat. Unter dieser Art multidimensionaler Armut leiden demnach momentan rund 1,2 Milliarden Kinder in Schwellen- und Entwicklungsländern.“
Die deutschen Wirtschaftsnachrichten sagen mehr als klar und deutlich, zugänglich für jeden im Netz:
„Danach könnten aufgrund der sozialen und ökonomischen Folgen der Pandemie zum Ende des Jahres 2020 etwa 12.000 Menschen pro Tag sterben – das wären schätzungsweise 2.000 mehr als an Corona selbst (im April 2020 lag der Spitzenwert der mit oder an Corona Gestorbenen bei etwas über 10.000). „Hunger dürfte uns schneller töten als das Coronavirus“, heißt es wörtlich in der Studie.“
Wonach hungert die westliche Welt?
Wie sieht es in all diesen Fällen mit unserer Gleichheit aus? Wo ziehen wir privat unsere Grenzen hoch? Womit beruhigen wir unser Gewissen? Was sehen wir überhaupt? Was nehmen wir für wahr? Wie klein oder groß ist unser Horizont? Wo beginnt er? Wo hört er auf?
In all den entstandenen Entscheidungen des letzten Jahres und den noch anstehenden Entscheidungen des neuen Jahres gilt es nicht die Fragen im Rahmen einer bestimmten Nationalität zu beantworten, sondern es gilt eine globale Antwort aufzutun.
Diese globale Antwort ist nicht mit Impfen ja oder nein zu beantworten, nicht mit Distanz und Masken, sondern mit ehrlicher Auseinandersetzung der weltlichen Zustände.
Diese globale Antwort ist nicht mit Impfen ja oder nein zu beantworten, nicht mit Distanz und Masken, sondern mit ehrlicher Auseinandersetzung der weltlichen Zustände.
Der große Zenmeister Richard Baker Roshi schreibt in seinem Neujahrsbrief an die Mitglieder der zen-buddhistischen Gemeinde:
„Während ich diesen Brief schreibe, werden die ersten Covid-19 Impfungen verabreicht. Gegen die bereits eingetretene globale Erwärmung und gegen die längst laufenden globalen Wandlungsprozesse des Anthropozäns wird es keine Impfmöglichkeit geben. Der einzige Schutz, den wir hier als Individuum haben, sind Resilienz, Mut und Weisheit. Auf gesellschaftlicher Ebene werden uns nur weitsichtige Staatsräson, wissenschaftliche Durchbrüche und globale Kooperation schützen. Unsere einzige Hoffnung auf Heilung wird in einer ausgesprochen klugen, weisen und zukunfts-mitfühlenden Nutzung unserer Potenziale liegen.“
Resilienz, Mut und Weisheit erlangt der individuelle Mensch, wenn er sich auf den Weg macht. Auf den Weg machen, bedeutet, Distanzen zu überwinden, Masken niederzureißen und wahrlich jeden Menschen als des Gleichen zu betrachten. Und nicht nur Menschen, sondern überhaupt Lebendiges. Gibt es wirklich etwas, was nicht lebendig ist?
Möchte einer mit dem hungernden Kind in Bangladesch tauschen, von denen derzeit jedes vierte Kind verstirbt?
Möchte einer mit dem Aids-Kranken in Botswana tauschen, die jetzt noch ärmer sind?
Möchten einer von uns mit dem Obdachlosen tauschen, der nicht einmal mehr weiß, wo er sich waschen kann?
Mahatma Gandhi sagt: „Hunger ist die schlimmste Form der Gewalt.“ Ist im Angesicht dieser Wahrheiten nicht wirklich Mut und Weisheit gefragt? Die Weisheit loszugehen und zu tun? Die Weisheit, die Masken fallen zu lassen und Distanzen aufzuheben, um nicht noch mehr Menschen das Leben zu nehmen, wo wir doch angeblich Menschenleben retten wollen und dies dem Wohle des Volkes dienen soll?
Der bayrische Ministerpräsident Markus Söder sagt am 17.11.2020 im Interview mit Christian Deutschländer und Mike Schier für den Merkur: „Ich nehme jedes einzelne Argument auf. Ich bitte aber alle, das große Ganze zu sehen und nicht nur die Betroffenheit des Einzelnen. Wir haben stark wachsende Todeszahlen in Deutschland. Das einfach achselzuckend in Kauf zu nehmen, obwohl man Leben retten könnte, wäre eine ethische Kapitulation. Ich kann das mit meinem Gewissen nicht verantworten.“
Hört die Ganzheit schon an der bayrischen Grenze auf oder an den Deutschen? Sind die Todeszahlen in Deutschland wichtiger als Todeszahlen von verhungernden Menschen? Achselzucken, obwohl man Leben retten kann, eine ethische Kapitulation? Sie ist bereits eingetreten. In dem Augenblick, indem die westliche so zivilisierte Gesellschaft sich auf ihren Profit verlegte und die Menschheit aus dem Auge verlor, indem Moment begann ein Virus zu wachsen.
Globale Verantwortung ist Verantwortung. Es ist Weisheit. Und zeigten die Menschen den Mut, zu ihren Taten (Profit, Gewinn, Macht, Konsum) zu stehen, könnten sie sie verändern. Wenn wir uns nicht bei jedem Tun, bei jeder Produktion fragen, was machen wir mit dem Material, wo kommt es her, wie gesund ist es, wer verdient oder stirbt daran, dann ist das eine ethische Entscheidung mit Weitblick.
Wir sind Menschen. Menschen sind Sterbliche. Sterbliche sind jeden Alters. Jedes Alter ist lebendig. Lebendigkeit ist pflanzlich, tierisch und und und, auch virell. So vieles kennen wir nicht. Lebendigkeit nährt sich von Totem. Totes nährt sich von Lebenden. Beides ist einander gleich, nur ein winzig kleiner Moment entscheidet über die Form das Daseins. Mit welchem Maßstab wollen wir verantwortlich ethisch entscheiden, dass unsere Menschenleben in Deutschland mehr wert sind, als die Hungernden Menschen in Bangladesch oder Afrika, Südamerika und auch in Deutschland, wo laut Armutsbericht gerade durch das Virus die sozial schwachen Familien mit Kindern besonders betroffen sind. Auch mein Enkel Linus ist davon betroffen. Die Marburger Uni-Klinik mit angeschlossenem Autismus-Zentrum sagte gerade zu mir am Telefon, dass sie verlangen, dass auch das nicht einmal dreijährige Kind eine Maske tragen müsse. Auf die Frage, wie ein Kind mit Autismus eine Maske aufgesetzt werden soll, kam die Antwort, das ist Gesetz. Ist das ethische Verantwortung? Was für Folgen hat das für das Kind?
Nehmen wir unsere Verantwortung ernst wie die Lehrerin Kassandra bei Biene Maja, indem wir uns klarmachen, wir gleichen den Anderen, auch einem Virus. Resilienz erreichen wir durch Frischluft, Auseinandersetzung mit Keimen, mit Meditation und Respektanz der Ganzheit allen Lebens. Mut ist sich einzugestehen, dass es ein Ende des vorgestellten Lebens gibt. Weisheit ist das Tun des Richtigen im Sinne des Ganzen.
In diesem Sinne mögen wir alle mutig genug sein, die Weisheit zu leben.