In unseren Kindertagen gründen wir Freundschaften. Wenn wir mit dem Leben fließen und älter werden, lösen sich diese Freundschaften oftmals einfach so auf. Der eine macht die Ausbildung und der andere jene. Die Aufenthaltsorte verändern sich und schon haben wir uns aus den Augen verloren. Manchmal geht es auch schleichend. Gestern waren wir noch gute Freunde und dann schwindet der Kontakt, ohne dass großartig etwas geschehen wäre. Der Fluss fließt einfach nicht mehr nebeneinander her, sondern die Flussbahnen trennen sich und fließen in andere Richtungen.
Wir können jedoch noch mehr aus den Augen verlieren. Die Augen stehen für Sichtbarkeit. Sie lassen uns Dinge sehen, auch wenn, wie die Wissenschaft eindeutig belegt, wir nicht wissen, was wir eigentlich sehen. Wenn die Nervenbündel sich zum blinden Fleck, an dem wir nichts sehen, zusammenballen, entsteht sozusagen eine Entleerung des Gesehenen. „Das Faszinierende am Experiment mit dem blinden Fleck ist: Wir sehen nicht, daß wir nicht sehen.“ (Maturana und Varela 1984, S. 23)
Elektrische Impulse senden Informationen an das Gehirn. Was dann folgt, nennt die Wissenschaft Interpretation. Diese Interpretationen sind abhängig von Erwartungen, Mustern, Vorstellungen, Ansichten, Definitionen, Meinungen, Normen und Vereinbarungen. Außerhalb von diesen Vereinbarungen, andere Interpretationen als gewohnt zuzulassen, Umformungen zu erlauben, ist für uns Menschen äußerst schwierig. „Der Psychologe Jerome Brunner […] machte […] deutlich, daß wir nicht nur etwas Erwartetes leichter wahrnehmen als anderes, sondern auch besondere Schwierigkeiten haben, etwas wahrzunehmen, worauf wir nicht eingestellt sind. “ (Hayward Jeremy 1996, S. 18)
Wir sehen also sozusagen immer das, was wir sehen wollen, wovon wir schon ein Wort haben, eine Erklärung, eine Deutung, eine Beschreibung. „In Wahrheit ist jedoch schon das, was wir die Welt unserer Wahrnehmung nennen, kein Einfaches, von Anfang an selbstverständlich Gegebenes, sondern es »ist« nur, sofern es durch gewisse theoretische Grundakte hindurchgegangen […] ist.“ (Cassirer 2010, S. 36) Wir sehen also durch eine bestimmte Brille. Wer setzt schon eine Brille auf, durch die er nicht sehen kann?
Etwas aus den Augen verlieren, ist im alltäglichen Gebrauch eher negativ belegt, aber hier ist es jetzt zuerst einmal positiv, weil wir tatsächlich jetzt eine andere Brille ausprobieren.
Es besteht einfach die Möglichkeit, dass Felder in unserem spontanen Blind-Sein/Augenverlust wachsen, die in ihrer unermesslich „leeren Fülle“ ein Möglichkeitsspektrum aufzeigen, dass Augen öffnet in einer noch nicht benutzten Art. Diese unbekannten Perspektiven zeigen sich, wenn wir Erwartetes aus den Augen verlieren und stattdessen mit allen Sinnen verändert Sehen lernen. Schon im Johannesevangelium steht: „Hieraus sprach Jesus: ‚Zu einem Gericht bin ich in diese Welt gekommen, damit die, die nicht sehen, sehend und die Sehenden blind werden.‘“ (Arenhoevel Diego, Deißler Alfons, Vögtle Anton 1965, 108, Joh.Ev.9,39)
Erst, wenn wir die Augen verlieren, können wir von vorne anfangen, lernen anders hinzuschauen, ohne uns in ein einfach Gegebenes zu verlieren.
In dem kleinen wunderschönen Film „Erbsen auf halb sechs“
wird die Geschichte eines Theater-Choreographen erzählt, der nach einem Autounfall erblindet. Schön ist der Film, weil durch den Verlust der Augen, er langsam, ganz langsam beginnt eine Welt zu sehen, die ihm bisher unbekannt war. Er lernte den Regen sehend fühlen oder den Regen fühlend sehen. Sein Sehen wird zu Sehen ohne Vorgefertigtes. Es wächst ein neues Sehen heran, dass den ganzen Menschen immer mehr mit einbezieht.
Hat in unserer modernen Gesellschaft die Fixierung auf eine sehende Welt nicht so zugenommen, dass wir gar nicht mehr darum wissen, geschweige denn ahnen, wie groß unsere wirkliche Welt ist?
Was hindert uns Menschen die Tore zu öffnen, die wir nicht kennen? Was macht den Menschen Angst, dass sie die Türen verschließen? Sind nicht die Fragen statt Antworten das Öffnen von Türen und Tore? Fragen sind die Zündstoffe der Wissenschaften. Fragen sind die sichtbar gemachten Potenziale von Menschheit. Was wäre eine Welt ohne Fragen?
Fragen sind die Nährstoffe der Suppe, in der wir alle schwimmen. Eine einzige Antwort, verändert die Suppe. Sie kann genießbar oder ungenießbar werden. Wir entscheiden mit unseren Antworten und den daraus folgenden Handlungen, ob wir die Augen sehend oder blind lassen und somit die Suppe genießbar oder ungenießbar machen. Ein jedes Wesen dieser Welt schwimmt in dieser Suppe und richtet sie mit her. Ein jedes Wesen entscheidet mit, durch und in seinem Tun, Handeln und Entscheiden ganz für sich allein, wie diese Suppe schmeckt. Ist die Suppe Ausnahmezustand die Antwort auf die Frage einer Virusinfektion? Ist die Suppenbeigabe Maske eine Antwort auf die Frage nach einer Ansteckung?
Wenn wir uns trauen, die Augen zu verlieren, können wir neue Welten entdecken. Wir können ein Sehen aufwecken, dass uns zum Beispiel Augen öffnet für Wirklichkeiten, die auch möglich sind.
Photovoltaikanlagen auf jedem Haus, betreut von Energiewerken, erhält Arbeitsplätze, schafft Arbeitsplätze, vernichtet keine landwirtschaftlichen Flächen, spart fossile Energien. Artenreichtum bleibt erhalten. Macht und Geldgier wird in menschliche Bahnen gelenkt. Die Suppe wird essbarer für alle Wesen auf dieser Welt.
Forschungsgelder für Bildung, Lebensbedingungen, menschliche globale gegenseitige Kooperation statt für Waffen-und Rüstungsindustrie zu investieren, bedeutet die gewohnten Augen zu verlieren und neue Augen zuzulassen. Statt 2020 für Verteidigung 45, 64 Milliarden Euro auszugeben, wäre eine solche Summe wohl eher geeignet für Bildung und Forschung, deren Budget nicht einmal halb so groß 2020 war mit 20,31 Milliarden Euro.
Was sollten wir schützen müssen, wenn wir keine Angst haben? Das Wort „schützen“ steht in seiner ursprünglichen Bedeutung für „in einen geschlossenen Raum bringen, einfrieden, absondern, verschließen“. Ist das die Antwort auf die Fragen der Welt?
Ein jeder von uns ist am Suppe kochen beteiligt. Wir alle kochen die Suppe, die wir essen. Wir sind drei G oder vier G oder fünf G. G für gesund. G für gesegnet. G für ganz. G für Gast. G für geboren. G für geistig. G für Geradheit. G für geraten. G für Geschöpf. G für gewärtig. G für glücklich. G für groß. G für gut.
Die Vielfalt der G ist größer als drei. Die Vielfalt der Menschheit ist größer als die sinnliche Wahrnehmung es uns vorgaukelt. Lasst uns blind werden und anders sehen lernen. Dann schmeckt die Suppe vielleicht einmal dem größten Teil aller Wesen dieser Erde.
Beim Orakel in Delphi stand einst: Erkenne dich selbst! In diesem Sinne wünsche ich uns allen: Erkenne dich selbst! Sei kein Hindernis für die Menschlichkeit und mache die Suppe genießbar für alle! Tue dies mit tiefer Zuneigung für alle! Fange an die Augen zu verlieren und sehend zu sein!