Demokratie lebendig halten?

Wäre es nicht an der Zeit, die Demokratie zu festigen mit einer echten Verfassung? Und gilt dies nicht auch für Europa?

Der Philosoph Christoph Quarch hat sich angesichts der politischen Ereignisse mit dieser Frage aus-ein-ander-gesetzt. Dies ist die Aufgabe von denkenden Menschen. Nichts einfach hinnehmen! Hinterfragen können – selber denken und mit diesem Denken in den Austausch – in das WIR ALLE gehen.

Die Welt scheint regional, aber das ist sie nicht. Sie ist global, seit Bestehen der Welt. Und das sind wir alle!

WIR ALLE!

Wir alle brauchen Essen und Trinken, um zu überleben. Wir brauchen Kleidung und ein Dach über den Kopf, was uns schützt. Wir brauchen Bildung und Arbeit, denn sonst können wir unsere Funktion als Mensch hier auf diesem Planeten nicht tun.

Sind wir käuflich geworden für einseitige Interessen, weil wir nicht mehr selbständig denken? Sind wir manipulierbar geworden, weil wir unser Hinterfragen eingestellt haben?

Hier ist eine denkerische Auseinandersetzung, die es wert ist, gelesen zu sein!

Das Ende des Politischen? (Christoph Quarch)

Was die US-Wahl und das Ende der Ampel wirklich bedeuten
 
Es ist der 9. November 2024 – eigentlich ein Tag der Erinnerung an wichtige Ereignisse der deutschen Geschichte; in diesem Falle aber mehr noch ein Tag des Innehaltens ob der jüngsten Ereignisse. Hinter uns liegt eine Woche, in der Donald Trump erneut zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt wurde – und in der es zum Bruch der Regierungskoalition aus SPD, Grünen und FDP gekommen ist. Die Koinzidenz gibt zu denken. Zumal dann, wenn man die Begleitmusik im Ohr hat, die mit dem Ampel-Aus einherging. In vielem erinnert sie auf bestürzende Weise an das, was man bis vor wenigen Jahren nur von jenseits des Atlantiks kannte – also aus dem Land, das gerade dabei ist, nicht nur seine Demokratie abzuschaffen, sondern auch seine demokratische Kultur zu vernichten. Und so gibt es allen Grund zur Sorge, dass Deutschland sich auf demselben Weg befinden könnte: auf einem Weg, der gepflastert ist mit Häme, Spott, Gehässigkeit und Niedertracht – mit Egozentrik, Narzissmus, Machtgier und Ignoranz; auf einem Weg, der unser Land auf ähnliche Weise zu spalten droht, wie es in den USA bereits geschehen ist; auf einem Weg, der sich immer mehr von der Demokratie entfernt und der dasjenige zerrüttet, was von den Gründern unserer Kultur im alten Griechenland als das Politische bezeichnet wurde.

Das Politische ist das Herz der westlichen Zivilisation. Entdeckt im alten Athen bezeichnet es den offenen Handlungsspielraum eines Gemeinwesens (pólis), dessen Mitglieder es als ihre Aufgabe sehen, zugleich für das Wohl der Bürgerschaft im Ganzen und das gute Leben eines jeden Bürgers im Einzelnen zu sorgen. Dieser Raum des Politischen dient der gemeinschaftlichen und gemeinsam verantworteten Entscheidungsfindung der Bürgerschaft.
Er ist der eigentliche Raum der Freiheit, in dem die Vielen einander in Freundschaft begegnen. Sein Fundament ist die Rechtsstaatlichkeit, sein Dach der Gemeinsinn. Die Säulen, die es tragen, heißen Gleichheit vor dem Recht und Gerechtigkeit. Es ist ein Raum, in dem die Menschen eigenverantwortlich die Geschicke ihres Gemeinwesens gestalten, um gemeinsam zu erblühen und zu prosperieren.

Das setzt voraus, dass man sich beteiligt: dass man miteinander redet, einander zuhört, miteinander ringt und dabei immer von der Frage geleitet ist, was dem Gemeinwesen – und mithin jedem Einzelnen – zum Wohl gereicht: was dem Gemeinwohl dienlich ist. Eine Bürgerschaft, die sich in diesem Geiste im Raum des Politischen versammelt, nannte man im alten Griechenland den démos. Ihm die Geschicke der Polis anzuvertrauen, ist die Idee der Demokratie als einer Verfassung, die den Raum des Politischen als Raum des guten Lebens trägt und strukturiert.

Etwas anderes ist das, was man im alten Griechenland den óchlos nannte – ein schwer übersetzbares Wort, das der lateinischen plebs und dem deutschen Wort Mob oder Pöbel entspricht. Darunter verstand man die Summe einzelner Subjekte, die in ihrem Handeln vom Eigennutz bewegt werden und gerade nicht das Wohl des Gemeinwesens, sondern nur ihren eigenen Vorteil im Blick haben. Zum óchlos werden diese Einzelnen dann, wenn sie sich in ihrem jeweiligen Eigennutz verbinden, um in einem Gemeinwesen die erforderliche Macht zu erlangen, um ihre Eigeninteressen durchzusetzen. Dabei macht sich der óchlos gerne das demokratische Instrument der Mehrheitsentscheidung zunutze, um sich einen Anschein demokratischer Legitimation zu geben, wo er doch in Wahrheit die Demokratie vernichtet und an ihre Stelle eine Ochlokratie errichtet hat – um ein Wort des Historikers Polybios zu verwenden.

Eben das erleben wir in den Vereinigten Staaten von Amerika. Nach allem, was wir aus den Wählerbefragungen wissen, verdanken sich die Wahlentscheidungen der Trump-Wähler ausschließlich egoistischen Motiven wie Wohlstandswahrung und Abschottung gegen Einwanderung
– während die Wähler von Kamela Harris oft aus Sorge um den Erhalt der Demokratie für die Demokratin stimmten. Dazu passt, dass an der Seite von Trump ein Elon Musk agierte: der Prototyp dessen, was wir in der Philosophie den Homo Oeconomicus nennen – eines Menschen, der bei allem, was er tut, nur seinen eigenen Vorteil zu maximieren gedenkt. Trump und Musk sind Exemplare reinsten Wassers dieses Menschentyps und damit zugleich die Totengräber des Politischen. Der Raum des Politischen ist für sie nicht der Freiraum der Bürgerschaft, sondern ein Marktplatz, auf dem es nur darum geht, den Mitbewerber auszuschalten und sich selbst durchsetzen – ein Raum, in dem es gerade nicht um Kooperation und Konsens geht, sondern um Kampf und Vernichtung des Gegners; ein Raum, in dem nicht das Gemeinwohl gehegt wird, sondern der eigene Willen zur Macht. Und die bekommt man eben am einfachsten, indem man den ganz in der Homo Oeconomicus-Denke gefangenen Mob mobilisiert, ihm die Erfüllung seiner egozentrischen Wünsche verspricht und ihm zugleich die Macht über die vermeintlich Minderwertigen zubilligt – ganz gleich, ob es sich dabei nun um Einwanderer, Homosexuelle oder neuerdings wieder Frauen handelt. Diese Logik wird von Trump perfekt bedient.

Und es ist zu fürchten, dass ihm die Rechtspopulisten und Ochlokraten in Europa darin folgen. Denn der Erfolg scheint ihm Recht zu geben. Zumindest so lange, wie der Preis, den man dafür entrichten muss, unsichtbar bleibt: der Untergang einer Zivilisation und Kultur.
Und das Gleiche droht uns nun in Deutschland, dessen Demokratie nicht nur von den Ochlokraten in BSW und AfD sowie den demokratiemüden Wählern dieser Parteien unter Beschuss genommen wird, sondern fatalerweise auch von den Spitzenpolitikern der Partei, die aller Wahrscheinlichkeit nach die vorgezogenen Bundestagswahlen gewinnen wird.

Denn wer ist dieser Friedrich Merz? Ein Ex-Aufsichtsratsvorsitzender von Black Rock, einem Unternehmen, das wie kein zweites die Ideologie des Homo Oeconomicus internalisiert und im Namen des eigenen Profits skrupellos ganze Volkswirtschaften ruiniert hat. Aber man muss nicht die Vergangenheit bemühen, um zu erkennen, wie sehr Friedrich Merz vom Ungeist des Eigennutzes getrieben wird. Zusammenarbeit, Kooperation, Konsensfindung im Dienste des Gemeinwesens liegen ihm völlig fern – woraus sich sicher schließen lässt, dass er nicht politisch zu denken vermag; ja, dass er überhaupt nicht zu denken vermag,
wenn denn denken etwas mit der Fähigkeit zu tun hat, im Dialog mit anderen eigene Positionen zu überdenken und gemeinsam Lösungen zu finden – sofern das Denken etwas anderes ist als machtpolitisches Kalkulieren und Ersinnen von Strategien zur Vernichtung des Gegners. Was Merz seit Monaten öffentlich zu erkennen gibt, lässt jedenfalls den Schluss zu, dass es diesem Mann in keiner Weise um das Gemeinwohl des deutschen Gemeinwesens zu tun ist, sondern ausschließlich seiner eigenen Machtgier geschuldet ist. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis er ganz ins ochlokratische Lager überwechselt und mit der AfD koaliert – denn dass er unfähig und, schlimmer noch, unwillens ist, mit einer demokratischen Partie zu kooperieren, mit der man im Raum des Politischen Kompromisse schließen muss, hat er ja bereits in aller Deutlichkeit zu verstehen gegeben. Merz ist kein Demokrat und wird auch keiner mehr werden. Das unterscheidet ihn von Olaf Scholz, der sich allein dadurch als Demokrat erwiesen hat, dass er um des Landes willen seine Macht preiszugeben bereit ist.

Wirklich verstörend dabei ist allerdings, dass niemand ihm dafür Respekt zu zollen bereit ist. So weit ist offenbar die Erosion des Politischen – vor allem in der Medienöffentlichkeit – vorangeschritten, dass sich in diesen Tagen niemand hat finden lassen, der Olaf Scholz für die Entlassung seines ebenfalls demokratie-fernen Finanzministers gewürdigt hätte; der erkannt hätte, dass der Bundeskanzler sich als Demokrat erwiesen hat; wie übrigens schon häufig während seiner Amtszeit – denn dass demokratische Führung eben nicht darin besteht, bei jeder Gelegenheit Unmut zu sähen um sich des Ochlos zu bemächtigen (siehe Merz), sondern dadurch ausgezeichnet ist, im Stillen nach Kompromissen zu suchen und erst im Notfall klare Kante zu zeigen, ist bei unseren politischen Kommentatoren längst schon in Vergessenheit geraten. Und so zerstören wir nach US-amerikanischem Vorbild unsere Demokratie und spielen deren ochlokratischen Totengräbern die von diesen so heiß begehrte Macht in die Hände: die Macht, sich selbst und ihre Lobbygruppen zu bereichern und die Bürger in willfährige Konsumenten zu verwandeln. Düstere Aussichten an einem 9. November.

Und was machen wir jetzt?
Am einfachsten wäre es, sich in das Heer der zehn Millionen Depressiven einzugliedern, die unser Land derweil aufzubieten vermag. Aber das kann es nicht sein.
Gerade jetzt ist das Gegenteil gefragt: Mut, Zuversicht, Kampfgeist. Es ist noch nicht zu spät. Die Demokratie ist noch zu retten – wenigstens in Deutschland und Europa.
Aber es liegt an jedem einzelnen von uns. Das politische System selbst ist nicht in der Lage, sich zu reformieren. Es ist korrumpiert von der geistigen Pathologie des Homo Oeconomicus – von dessen anti-politischer Selbstsucht. Diese geistige Pathologie gilt es zu bekämpfen. Bekämpfen aber lässt sie sich nur mit den gewaltlosen Mitteln des Geistes.

Weshalb es dabei auch weniger um Kampf als vielmehr um Heilung geht: um die Wiederherstellung eines menschlichen und sozialen Gesundheitszustandes, von dem wir derzeit – zehn Millionen Depressive – weit entfernt sind. Aber das heißt nicht, dass er unerreichbar wäre.
Den Weg zu ihm weisen die Werte der Demokratie: Freiheit, Toleranz, Kooperation, Konsens, Miteinander, Lebendigkeit, Schönheit, Freundschaft, Frieden. Sie alle entsprechen dem Wesen eines guten Lebens. Sie alle haben die Kraft, ein Menschentum aus der Trance des egozentrischen Konsumierens zu wecken und für eine menschliche Zukunft zu begeistern. Anders als durch eine geistige Disruption wird sich die Demokratie nicht retten lassen.
Damit aber können Sie heute noch anfangen – einfach, indem sie diese Werte durch ihr Tun bezeugen: Wohlwollen statt Hass, Freundlichkeit statt Häme, Dank statt Spott, Lob statt Tadel, Gemeinsinn statt Eigensinn. ­ ­ ­ ­


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DANKE für diese wunderbaren offenen Worte. Mögen sie auf fruchtbaren Boden fallen und Menschen sich wieder erinnern, dass wir nur gemeinsam das sind, was wir sind – menschliche lebendige Menschen.

Im Tunnel der Alternativlosigkeit ­von Dr. Christoph Quarch

Ich möchte mit Euch diesen wunderbaren Beitrag teilen. Dr. Christoph Quarch ist selbstständiger Philosoph. Seine Gedanken zur Alternativlosigkeit des derzeitigen Politischen sind einfach wunderbar klar formuliert. Er hat mir erlaubt, seine Zeilen hier abzubilden. Herzlichen Dank.

Dr. phil. Christoph Quarch - Autor Redner Sinnstifter ...
Dr. Christoph Quarch

Mit dem neuen Infektionsschutzgesetz begibt sich Deutschland auf einen heiklen Weg, Dr. Christoph Quarch

Am 21. April 2021 hat der Deutsche Bundestag eine Neufassung des Infektionsschutzgesetzes beschlossen. Erklärtes Ziel der Bundesregierung ist es, mit einer bundesweiten „Notbremse“ die sogenannte „dritte Welle“ der Covid-Pandemie in Deutschland einzudämmen. Schon im Vorfeld wurden zahlreiche rechtliche und politische Einwände gegen die Gesetzesvorlage vorgebracht, selbst im Bundeskanzleramt wurden zahlreiche Bedenken laut. Ebenso wenig wie die Androhung einer Verfassungsklage seitens der Freien Demokraten hat all das die Fraktionen der Regierungsparteien davon abgehalten, dem Gesetz zuzustimmen und damit einer nie da gewesenen Zentralisierung der deutschen Politik den Weg zu bereiten. So alternativlos scheint das Diktat der Pandemie, dass man bereit ist, zu ihrer Bekämpfung das Föderalismusprinzip außer Kraft zu setzen und damit den wichtigsten und bewährtesten konstitutionellen Pfeiler der Bundesrepublik Deutschland zu beschädigen.

Warum sind die Regierungsparteien bereit, einen so hohen Preis für den Infektionsschutz zu zahlen? Warum sind die Regierenden nicht länger willens, alternative Wege wie in Tübingen oder im Saarland zu dulden? Weil sie dem Diktat eines Denkens erlegen sind, das ihnen fälschlicherweise suggeriert, der von ihnen eingeschlagene Weg sei alternativlos.

Den Begriff der Alternativlosigkeit politisch hoffähig gemacht, hat Bundeskanzlerin Angela Merkel. Wiederholt hat sie ihn verwendet, um den von ihr propagierten Weg der Pandemiebekämpfung zu rechtfertigen. Die Gefahr, der sie damit unsere Demokratie ausgesetzt hat, scheint sie nicht zu sehen. Das ist insofern verständlich, als sie an der Oberfläche des politischen Alltags kaum sichtbar ist. Gerade da aber liegt das Problem. Denn das Diktat eines in Kategorien der Alternativlosigkeit denkenden Mindsets bereitet unmerklich und untergründig einen Weg zur Diktatur. Er lässt das Fundament der Demokratie langsam erodieren, indem es den Freiraum des Politischen verengt. Dort, im Freiraum des Politischen wirkt Alternativlosigkeit wie ein Nervengift. Und da keine Demokratie ohne den Raum des Politischen denkbar ist, sagt man nicht zu viel, wenn man den Mindset der Alternativlosigkeit als Gefahr auf die demokratische Kultur entlarvt.

Der Raum des Politischen ist ein offener und unberechenbarer Raum. Es ist der Raum, in dem Wertkonflikte gewaltfrei ausgetragen werden. So wäre es der Raum des Politischen, indem während der Covid-Pandemie darum gerungen werden müsste, welche Ziele die Regierungspolitik verfolgen und welchen Werten sie genügen soll. Er wäre der Ort für Debatten zu Fragen wie diesen: Ist der höchste Werte des Gemeinwesens der unbedingte Erhalt jedes einzelnen Menschenlebens – und ist die Minimalisierung von pandemiebedingten Sterbefällen deshalb das oberste Ziel aller politischen Interventionen? Oder ist die Bildung der Jugend als Garant seiner Zukunft der höchste Wert des Gemeinwesens – und die Aufrechterhaltung des Schul- und Hochschulbetriebs das vordringlichste Ziel der Covid-Maßnahmen? – Um nur einen möglichen Diskurs zu skizzieren, der dringend geführt werden müsste.
Denn beide Sichtweisen sind gut begründet, beide sind mit der Verfassung kompatibel – und nicht nur sie. Auch die Bewahrung der Kulturlandschaft, der Wirtschaft oder des sozialen Friedens wären Werte, die mit dem des unbedingten Erhalts von Leben begründet konkurrieren dürften. Doch findet eine Wertediskurs über die Ziele der Pandemie-Eindämmung nicht statt. Die regierungsseitig vertretene Auslegung bedient ausschließlich eine nicht weiter infrage zustellende Wertsetzung: Leben muss erhalten und Triage-Entscheidungen in Kliniken müssen vermieden werden. Ist diese Zielsetzung erst einmal durchgesetzt und dem öffentlichen Diskurs entzogen, dann ist der Weg für das Konzept Alternativlosigkeit bereitet. Nun erscheint es nicht nur akzeptabel, sondern sinnvoll – sinnvoll nach Maßgabe eines nicht mehr infrage gestellten Ziels, dem alle politischen Interventionen als Mittel zum Zweck dienen müssen.

Dadurch ist der Keim zur Diktatur gelegt: Nicht eine Person übt sie aus, sondern eine dem Raum des Politischen entzogene Zielsetzung – eine Zielsetzung, deren vermeintlich unbedingte Geltung ihre Alleinherrschaft begründet und die ihr dienlichen Mittel dekretiert. Denn gesetzt, das Ziel steht unbeirrbar fest, dann stellt sich in jeder konkreten Entscheidungssituation lediglich die eine Frage: Welche konkrete Maßnahme dient dem Ziel am besten, am effizientesten, am schnellsten, am dauerhaftesten? Solche Fragen zu entscheiden, erfordert nicht länger den offenen Raum des Politischen, in dem Bürger um Werte und Ziele ringen. Sie zu entscheiden, delegiert man an Experten bzw. Ingenieure und deren instrumentelle Vernunft, kraft derer sie die angezeigten Maßnahmen be- oder errechnen können. In der Welt des Rechnens bzw. der Berechnungen ist kein Platz für das Politische. Anders als in der politischen Welt der Werte, die um die Kategorien angemessener oder unangemessener kreist, herrschen im Raum des Rechnens die Kategorien richtig und falsch – und die Kategorie alternativlos.

Hier verweise ich auf meinen Blog „Wirklichkeit und Wahrscheinlichkeit„.

Wenn es darum geht, die Funktion einer Maschine aufrechtzuerhalten, dann mag es nach eingehenden Berechnungen auf der Grundlage aller verfügbaren Informationen alternativlos erscheinen, sich für eine Maßnahme zu entscheiden. Wenn ein Chirurg eine Operation durchführt, dann mag es nach Maßgabe derer Zielsetzung alternativlose Optionen geben. Und wenn ein Unternehmen seinen Purpose darin erkannt hat, seinen Profit zu maximieren, kann Alternativlosigkeit bei Börsentransaktionen eine sinnvolle Kategorie sein. Es ist verführerisch, diese Denkweise in die Politik zu übertragen, denn sie entlastet die Politiker von der Verantwortung, für Werte und Ziele einzustehen und verspricht ihnen zudem eine Festigung ihrer Macht: Denn wenn die Diktatur der dem Diskurs entzogenen Ziele errichtet ist, wird es dem politischen Gegner schwer, Widerstand zu leisten; weil der Raum des Politischen geschwunden und durch Expertise und Kalkül dominiert wird. Wohin das führt, lässt sich inzwischen absehen: Da das Kalkül von intelligenten Maschinen sehr viel besser exekutiert werden kann als von wertbehafteten Menschen, steht zu erwarten, dass in der Diktatur der unhinterfragten Ziele der Raum des Politischen dadurch schwindet, dass er durch Computer verbaut wird – oder durch Experten. So oder so hört er auf zu existieren. Und mit ihm schwinden Demokratie, Freiheit, Gemeinsinn und der menschliche Diskurs.  

Wer wissen will, wie ein politisches Gebilde aussieht, in dem das Politische eliminiert wurde, der werfe einen Blick auf die Volksrepublik China. Gewiss, solange die demokratischen Institutionen in unserem Land noch intakt sind und der Rechtsstaat funktioniert, sind wir weit von der Dystopie einer Sinisierung Deutschlands entfernt. Doch man täusche sich nicht. Die deutsche Geschichte hat den Nachweis erbracht, dass die Erosion des Politischen in den Köpfen beginnt: dort, wo das Denken aufhört und die Ziele des politischen Handelns nicht mehr zur Diskussion gestellt werden. Wer Alternativlosigkeit als politische Kategorie verwendet, hat den ersten Schritt in den Tunnel getan. Das neue Infektionsschutzgesetz vollzieht den zweiten. Seien wir wachsam…