Sinfoniekonzert

Sinfoniekonzert am 20. September 2020 – Beethoven im Jahr des Virus – das Landestheater Coburg spielt heute zum ersten Mal wieder ein Sinfoniekonzert.

Wenn der erste Ton im Sinfoniekonzert erklingt, ist das restliche Konzert bei Feinfühligkeit erfühlbar. Ist dieser erste Ton ein Ton, so lässt sich die Freude erahnen, die die weiteren Töne leiten werden. Dieser erste Ton ist deshalb so einzigartig großartig, weil er den Moment eines einzigen Lebens der Welt zum Ausdruck bringt. Dieser Ton zeigt auf so eindeutig vielseitige Weise wie eine Situation, ein Moment, ein Augenblick Welt entsteht, ein Hauch Leben erblüht.

Ein Sinfoniekonzert, egal von welchem Komponisten spannt den Bogen des Lebens auf. Er wird nicht nur sichtbar in Musiker, die Bögen über Saiten bewegen, die in Hörner, Klarinetten und Flöten blasen, sondern dieser Lebensbogen, der ein Weltgeschehen ist, wird erhörbar. Wir können in einer einzigen Sekunde die Vielfalt des Lebens sehen und gleichzeitig hören. Das ist das Wunder eines Live-Konzertes. Keine Fernsehaufnahme kommt hier mit, weil es keinen fühlbaren Gesamteindruck aller Bewegungen im entstehenden Ton des Orchesters gibt. Wir können gleichzeitig den Spuren des Dirigenten und den sich im Rhythmus wiegenden Kopf des Musikers sehen. Wir können die unter dem Stuhl gekreuzten Beine der Violinistin sehen und gleichzeitig das Heben und Senken aller Bögen bemerken. Kein Kameraausschnitt kann uns eine derartige Ganzheit liefern wie ein Live-Konzert. Es sind diese einmaligen leisen unhörbaren Zwischentöne, die zum gemeinsamen Ton anschwellen. Jedes digitale Werk ist immer nur ein Ausschnitt, aber die Live-Aufnahme zeichnet alles auf.

Die Prinzen in Suhl

Wenn ein Dirigent wahrhaftig sein Tun ist, siehst du nicht nur die Musik im Tun des einzelnen Musikers, sondern wird der Ton, der hörbar ist, zu einem Gesamtkunstwerk. Stimmt der Dirigent mit jedem Musiker einen gemeinsamen stillen unhörbaren Ton in Form eines tonlosen Zwiegespräches an, so setzt sich dieser Ton als hörbarer Ton in den gesamten Raum ab. Der Musiker schwingt seinen Bogen, bläst seinen Atem ein, haut die Pauke, zupft die Saiten. Es ist ein bewegtes Tun, das wie ein Meer in Wellen rauscht.

Die Bewegung des Dirigenten ist die Bewegung der Musiker. Die Bewegung der Musiker ist der entstehende Klang. Der entstehende Klang ist hörbar für alle. Johannes Braun, heute Dirigent im Landestheater Coburg setze diese Bewegung wunderbar in den Raum. Ein herzliches Danke.

Ein Sinfoniekonzert ist hörbar gemachte Lebenswelt. Es ist ein Geschehen, das sich aneinanderreiht wie ein Alltagsgeschehen. Der Wecker klingelt. Erste Geschehen. Die Beine schwingen sich aus dem Bett. Ein zweites Ereignis. Die Füße setzen sich auf den Boden. Ein weiteres Ereignen. Die Beine gehen. Das nächste Geschehen. Das Sinfoniekonzert setzt Lebenswelten in Töne um. Der Komponist hört Geschehen in Tönen. Wir „normale“ Menschen sehen Geschehen, aber wir setzen sie nicht in Kunst um. Ein Maler kann dies. Doch ein Komponist setzt sozusagen Bilder, Gedanken, Gefühle in Töne um. Er nimmt die Lebenswelt des lebendigen Lebens eines einzigen Jetzt und baut ein Tonspektrum auf. Der Komponist weiß, wann die Violine einsetzt, wann das Violincello leise oder laut spielt. Er hört die Komposition in sich und sieht die Noten bereits auf dem Papier.

Ein Dirigent setzt in die Komposition seine eigene Position hinein, versenkt sich in die Tonwelt dieses Lebensgeschehens. Er fordert die Musiker auf, dieser Tonwelt zu folgen, sie mitzugestalten, sie zum Leben zu erwecken.

Ein Sinfoniekonzert ist Weltgeschehen – Augenblick für Augenblick. Es ist wunderbar zu sehen, wie kleinste Bewegungen des Dirigenten große Wellen auslösen. Es ist grandios zu hören, wie in jedem Klanggeschehen einer einzigen Sekunde die Vielfalt auflebt und so lebendig daher schreitet, dass es unfassbar scheint, dass dies möglich ist. Aber genau das ist menschliches Leben. In jeder Milli- Sekunde löst sich ein Schwarm von Gestaltungen, die gemeinsam die Welt bilden.

Jeder Musiker spielt sein Instrument. Er ist der Künstler auf seinem Instrument. Jeder Mensch ist ein Individuum und spielt sein eigenes Leben, formt es, gestaltet es. Alle Musiker zusammen bilden das Orchester. Dieses hebt die Einzigartigkeit eines jeden gespielten Tons in ein Gesamtkunstwerk. Genauso heben wir Menschen jedes unserer individuellen Leben in das Gesamtkunstwerk Welt. Wir spielen eine Sinfonie. Das Wort Sinfonie stammt aus dem griechischen und steht für Zusammenstimmen. Ja, wir alle sind Stimmen dieser einen Welt. Wir können ein Konzert spielen, dass die Welt begeistert. Wir können ein Musikstück entwerfen, in dem alle zusammen harmonisch tönen. Harmonisch tönen kann auch schräg sein. Doch wie in einem Sinfoniekonzert, spielt ein jeder trotz seiner Einzigartigkeit ein Gesamtwerk.

Dies scheint oftmals in unserer heutigen Zeit vergessen zu werden. Ein abgeholzter Regenwald kommt nie wieder zurück. Ein untergegangenes Volk steht nicht mehr auf. Eine Tierart, die ausstirbt, wird nicht mehr lebendig. Eine aussterbende Pflanzenart kann Heilung von Krankheiten bedeuten, vielleicht sogar für eine Viruserkrankung. Es ist in diesem einen Ton. In dem wunderbaren Film „Wie im Himmel“ geht es genau um diesen einen Ton. Der Ton, der alle Stimmen zu einem Ton vereint. Dass dies möglich ist, zeigt immer wieder die Musik. Sie lebt es uns vor. Wir sitzen alle in einem Orchester. Ein jeder spielt sein Instrument. Doch nur gemeinsam erschaffen wir ein Werk, dass weltumfassend oder raumumgreifend ist.

Nur alle gemeinsam sind wir eine Menschheit. Sobald nur ein Mensch meint, dass das Instrument nur für ihn allein spielt, ist ein Konzert nicht mehr möglich, ist kein gemeinsamer Ton hervorzubringen. Das Orchester scheitert. Jedes Instrument, jedes Individuum ist bereits von Beginn an Mitgestalter. Niemand kann sich zurückziehen aus dem großen Konzert der Welt, weil jeder Mensch wie jeder Musiker ein Schaffender – ein Schöpfer von Geschehen ist. In diesem Sinne trägt jeder Einzelne Verantwortung für das Gesamtgeschehen. Sobald sich einer dem entzieht und auf Kosten anderer spielt, entsteht ein Misston, den alle hören und sogar sehen können. Wir Menschen sind menschlich, wenn wir den gemeinsamen Ton in einem großen Weltorchester gemeinsam spielen. Niemand hindert uns eine einmalige Sinfonie zu erschaffen – höchstens wir selbst.

Wenn wir zulassen, dass die Sinfonie Menschlichkeit wegen eines Virus aussetzt, dann sind wir bedauerlichweise nicht mehr in einem Sinfoniekonzert, sondern dann sind wir in der Hölle des Lebens der Unmenschlichkeit gelandet, die vielen Menschen das Leben raubt, so wie jetzt vielen Bäumen im Regenwald das Leben genommen wird. Dies setzt eine Musik frei, die Trauer nicht nur kennt, sondern die Trauer ist.

Ich wünsche uns allen, dass die Musik der Menschlichkeit wieder einsetzt, dass eine Sinfonie des Lebens entsteht, die das Leben bewahrt und erhält, egal welches. Denn jedes Leben ist lebenswert und hat in dem Konzert des Lebens seinen Ton, der das Gesamtkunstwerk bereichert und zu dem macht, was es ist. Ein Kunst-Werk aller.

Dieses Kunstwerk kennt kein Ende, auch wenn der Tod mitten drin ist. Er gehört dazu, weil er ist so lebendig wie das Leben – eben nur anders. Auch er spielt seinen Ton in der Sinfonie. Wäre er nicht da, wäre die Sinfonie nicht ganz. Der Tod ist immer mittendrin genauso wie das Leben. Ihn auszuschließen, wäre fatal, weil es der Sinfonie Tonmöglichkeiten nimmt. Doch, das Leben anderer aus Habgier zu nehmen, anderer des Lebens berauben, ist eine Tonmöglichkeit, die die Sinfonie zum scheitern bringen kann. Eine Sinfonie gelingt, wenn alle Beteiligten ihr Instrument mit der größten Kunstfertigkeit spielen dessen sie fähig sind.

Urwald zu vernichten, Ressourcen zu verschwenden lässt die Sinfonie abgleiten in einzelne Töne. Die einzelnen Töne verlieren sich. Der Verlust von Tönen führt zu einer Begrenzung von Lebensweisen. Begrenzte Lebensweisen verhindern Lösungen von Weltproblemen. Denn nur die Vielfalt aller Töne führt zu einer Sinfonie, die weltumgreifend als Einheitlichkeit mit vereinenden menschlichen Lösungen daher kommt.

Die Hand reichen, ist menschlich. Die Hand wegnehmen, ist unmenschlich. Hände tragen gemeinsam mehr. Eine Hand trägt nur wenig.