Spiegelgespräche von Rudolf G. Binding

Mein Freund Thomas schenkte mir dieses kleine Büchlein, das 1949 veröffentlicht wurde, zum Geburtstag. Es gibt nicht viele Bücher, die mich so reizen, dass ich sie nicht aus der Hand lege. Dieses ist eines von ihnen. Eine junge Frau sitzt vor ihrem Ankleidespiegel. Ein Mann holt sie dort einmal in der Woche ab. Sie gehen gemeinsam ins Theater, weil der Ehemann der Frau immer sehr beschäftigt ist.

Eines Tages lässt die junge Frau den Spiegel etwas verrücken!

An diesem Tag sieht sie in ihrem Spiegel eine neue Welt, eine nie gesehene Frau. Der Mann, der sie abholt, beginnt mit ihr die Spiegelgespräche zu führen. Was macht ein Spiegel mit den Menschen? Wozu verführt er? Was verdeckt er? Was ist unsichtbar in ihm?

Wie viele Spiegel sehen wir überhaupt? In welche schauen wir hinein? Welche lehnen wir ab?

Hier ein kleiner Ausschnitt, den ich besonders für unsere Zeit aktueller denn je finde.

„Es käme also darauf an, den Spiegel zu überwinden?“, fragte die Frau. „Darauf käme es nicht so sehr an, also das Spiegelbild, das Bild des Menschen, an das er verhaftet ist, zu überwinden. … Des Menschen Bild ist die Fessel, die ihn an seine Gestalt bindet und ihm die Entwicklung einer höheren nicht erlaubt.“ „Wie meinen Sie das?“, fragt die Frau. „Ich meine, dass das Bild des Menschen als Verhaftung ihn hindern wird, Flügel zu bekommen…. Die Menschheit schwächt sich durch jede Hemmung des Spontanen, des Kraftvollen. … Die Energien, die jenen jungen Adler glichen (Hinweis auf das Aufwachsen junger Adler vorher und wie sie fliegen lernen, E.W.), sind vertan. Die großen Leidenschaften sind ausgestorben. Die brennenden Sehnsüchte sind erloschen. Die hohen Gefühle verlacht. Nur aus einer Schwäche – nothaft, in Not – nicht aus seiner Kraft erhebt sich der Mensch noch; und so vermag er sich schließlich um nichts mehr zu erheben als um seinen täglichen Lohn, um Geld und heimlich elenden Nutzen, um Macht und Machtähnliches, um ein paar Guttaten, die nicht seinem Ausstieg gelten, um dieses elende Menschenwerk unserer Zeit, wo wenige Große sind und Große nur wenige. Die Adern des Zorns und des göttlichen Stolzes sind vertrocknet. Kein Mann errötet mehr vor Scham, nicht mehr zu sein als jeder, und die Liebe macht niemanden mehr heiß. Die Säfte des Blutes sind blaß. Die Triebe des Lebens sind hochgebunden, sonst kröchen sie welk am Boden hin und keiner trüge sich selbst. Die Menschen fühlen sich nur noch im Stützwerk von Rechten und Organisationen stark, und wenn es der einzelne ist: auch er tritt vor den Spiegel und den Spiegel – und wenn er nicht aus Glas ist, ist er aus gläsernen Urteilen anderer gebildet …. Denn das Göttliche ist das Spontane des Kraftvollen ohne Festlegung in die augenblickliche Form …. In diesem Augenblick würde der Spiegel sinnlos.“ (97-103, 1949)

Was ist der Spiegel? Der Spiegel ist jedes und jeder. Er ist das Hinausschauen und sehen des Gewohnten. Auf einer philosophischen Veranstaltung mit dem wunderschönen Namen „Denkinsel“ in Kitzingen, gegründet und aufgebaut von Thomas Schneider, sagte ein Teilnehmer: „Die Wahrnehmung des Menschen ist aber doch ganz objektiv. Dieser Fußboden ist doch orange.“

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Thomas Schneider, Denkinsel Kitzingen, Gespräche auf der Parkbank.

Ich war so verwundert, dass in unserer heutigen Zeit, jemand sagt, dass die Wahrnehmung objektiv sei, da die Wissenschaft seit vielen Jahren belegt, dass kein Mensch dasselbe sieht. Es sind Konventionen, Übereinkünfte, die die Menschen trafen, um miteinander reden zu können, Entwicklungen voran treiben zu können und Inhalte bewerten zu können. Aber dies sollte allen Menschen klar sein, dass die Welt, in deren Spiegel wir heute schauen, nicht objektiv ist, sondern eine auf Konventionen beruhende Welt ist, während die Wahrnehmung jedes einzelnen Menschen so individuell ist wie sein Fingerabdruck. Hier sei der wunderbare Aufsatz von Thomas Nagel, Wie es ist eine Fledermaus zu sein?, zu empfehlen.

Wenn wir die Welt also wieder als das einsetzen, was sie ist, nämlich als Spiegel, dann können die Menschen das Spiegelbild erkennen und überwinden lernen. Solange dieser Spiegel als Realität hinhält, übersieht der Mensch sein wirklich großes Potenzial des Seins. Seine intuitive Kraft, seine Spontanität, seine Öffnung von Festlegungen, seine Auflösungskraft von Konventionen, so dass wieder Leidenschaft entstehen kann. Leidenschaft und „göttlicher Zorn“ für ein menschliches würdiges Sein.

Die Welt der Kunst ist so eine Welt. Sie lebt von der Kraft der Intuition, von der Kraft der Spontanität, von der Kraft der Authentizität. Diese Welt auf ein Minimum zu beschränken, so wie jetzt derzeit, bedeutet die Spiegelbilder erstarren zu lassen, die lebendige Lebenskraft welken zu lassen.

Was macht das mit den Menschen? Die Menschen schauen in das Spiegelbild und sehen eine Realität, die sie für wahr halten, aber wenn sie wirklich hinschauen, kann ihnen das geschehen, was der Frau in Bindings Erzählung passierte: „Ich habe mich das erste Mal in meinem Leben selbst besehen.“

Dieser Moment ist die Wendung vom Spiegelbild weg zur wirklichen Realität. Dieser Augenblick ist nicht unbedingt schön. Die Frau beschriebt ihn so: „Mir ist etwas Unerwartetes, vielleicht Schreckliches begegnet.“

Ja, es ist unerwartet. Ja, es ist ein Schreck. Denn in dem Moment, wo das Spiegelbild fällt, das Bild, das wir alle so gut kennen, dann fallen wir ins Bodenlose, jegliche Sicherheit geht verloren, alles wird fragwürdig, nicht ist mehr fest. Einen solchen Moment zu erleben, bedeutet „Mensch werden und menschliches Sein lebendig auferstehen zu lassen“. Die Festlegung der Form fällt. Jetzt ist alles frei. Die Spontanität öffnet ihre Tore. Jetzt ist der Augenblick der weisen Entscheidung. Halte ich die Tür auf und gehe hindurch oder schließe ich sie wieder, weil dieses Bodenlose, diese Unsicherheit – welcher Mensch kann sie denn ertragen?

Die Frau in der Erzählung entschied sich für einen spiegellosen Tag und sie erzählt: „Nach einem ganz spiegellosen Tag habe ich meinem Gatten wieder in die Augen gesehen: als wäre e r mein Spiegel. Ich habe – wie soll ich es ausdrücken – ich habe mir den Mut genommen, w i e d e r zu lieben.“

Ich wünsche uns allen in diesen seltsamen Zeiten, den Spiegel einen Tag beiseite zu legen und den Mut zu haben, wirklich menschlich Mensch zu sein:

  • keine Zahlen mein Leben bestimmen zu lassen,
  • keinen angstmachenden Nachrichten glauben zu schenken,
  • keine Wenn-Geschichten für Wahrheiten zu halten,
  • keine Distanz für Menschlichkeit zu halten,
  • keine Masken als Natürlichkeit zu betrachten?
  • keine Menschen in Würdelosigkeit allein zu lassen
  • keine kranken und alten Menschen einsam zurück zu lassen
  • keine Menschen ihren Lebensinhalt verlieren zu lassen
  • keinen Kindern die Chance der kindlichen Entwicklung in einer gesunden Gesellschaft nehmen zu lassen
  • und und und.

Den Spiegel einen ganzen Tag überwinden, sich der Unsicherheit, dem Erschrecken stellen, nicht weglaufen, sondern wieder Größe, Göttlichkeit, Menschlichkeit auferstehen zu lassen. Wir erlauben uns, den Spiegel zu verrücken. Es geschieht ein Wunder. Lasst es uns doch einfach tun und zuschauen, was geschieht. Neugierig. Mutig. Menschlich. Fehlerhaft. Aufrichtig. Ja, stolz ein fehlerhafter Mensch mit liebevollem Herz zu sein.

Das nennt sich Vertrauen in die Menschlichkeit. Das nennt sich Liebe zum Leben.

Das Spiegelbild ist immer eine Verzehrung, eine Verdrehung, eine Starrheit, aber wir Menschen sind Menschen, weil wir die Fähigkeit haben, Spiegel Spiegel sein zu lassen, uns umdrehen können und die Wirklichkeit sehen können wie sie wirklich ist.

Große Menschen machten und machen es uns vor.

Ein Al Halladsch, ein Jesus, ein Buddha, ein Mohammed, eine Mutter Theresa, eine Jeanne d’Arc, eine Marie Curie, eine Elisabeth Kübler Ross, eine Maria Montessori.

Und mit Maria Montessori: „Hilf mir, es selbst zu tun“. Ja, da kommen wir nicht drum herum. Wir müssen es selbst tun. Und sollten wir Menschen kennen, die den Spiegel fallen gelassen haben, sollten wir diese aufsuchen, denn sie wissen aus Erfahrung, welche Bedeutung dies für das Leben hat. „Hilf mir, es selbst zu tun.“

Auch der Weg der Zazen-Meditations-Praxis. Hier der Hinweis auf mein Zen-Seminar

am Samstag, den 7. November 2020 von 10-16 Uhr, „Die weise Entscheidung“.

Anmeldung und Informationen 09563 54 90 391 oder info@co-philosophie.de