Das tibetische Totenbuch

Walter, Sonderausgabe 1995

Irgendwie ist das Leben seltsam. Karneval ohne Umzüge und Prunksitzungen. Aschermittwoch, einer der höchsten Feiertage der Kirchen in fast leeren Kirchen. Nur nach Anmeldung darf die Kirche besucht werden. Absperrungen regeln die Menge der Menschen.

Gleichzeitig bevölkert sich mein Haus mit drei weiteren Menschen. Meine Schwiegertochter. Zwei Kinder. Fünf Monate und drei Jahre. Jetzt Freitag stellte der Kinderarzt fest, dass die Kleine doch an der Niere operiert werden muss.

Gleichzeitig fühle ich in mir ein Gefühl emporsteigen von Verlust an Lebenslust. Was ist das?

Ich meditiere und höre in mir die Stimme: Greife zum tibetischen Totenbuch. Ich tue es. Ich schlage die erste Seite auf. Ich lese die erste Zeile und jetzt wundert euch nicht:

„Mach dich frei von Lebenslust“.

Genau das Gefühl, das ich empfinde, wird hier nicht als etwas Negatives empfunden, sondern als ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einem Leben, dass im Vers so endet:

„Ruhig und heiter zieh deines Weges“.

So stehe ich nun auf, ziehe ruhig und heiter meines Weges. Es bedarf keiner Lebenslust, keiner Wonnen, sondern das einfache Gehen, das einfach Sitzen, das einfach Hier-Sein.

Es bedarf dieses einfach „Geschehen lassen“ als ein unbegrenztes Ja, das keine Begrenzungen kennt.

Eine Welt, wie die derzeitige, die meint durch Begrenzungen, der Welt und den Menschen helfen zu können, befindet sich wie es im Vers heißt auf den Wegen von:

„Dünkel, von Unwissenheit und der Zerstreuung Wirrsal“.

Es gilt nicht auszusperren, sondern einzuschließen. Ein Virus taucht auf, verschwindet nie wieder. Ein Mensch taucht auf, verschwindet niemals wieder. Ein Gedanke setzt sich in eine Maschine um, verschwindet nie wieder. Wir verwandeln unsere Formen, unsere Gestalten. Vor 100 Jahren sah ein Auto anders aus als heute. Vor 1000 Jahren pflügte der Pflug mit der Körper- oder Ochsenkraft. Vor 2000 Jahren betrat man den Fluss zum Waschen. Die Gedanken des Menschen formen und verändern die Welt von Nanosekunde zu Nanosekunde tausendfach. Nichts davon verschwindet. Es verändert sich einfach. Auf diese Kraft baut der Mensch die Welt. Das Vertrauen in diese Kraft versetzt Berge. Das Vertrauen in die menschliche zusammenhaltende Kraft formt die Welt. Eine Kraft, die verändert und permanent gestaltet. Jeder Ausschluss bedeutet, Begrenzung.

Doch, vielleicht ist gerade die Kraft des Virus ein Hinweis für uns Aufzuwachen, was im Vers so steht:

„Zerreiß die Bande; nur so erreichst du wirklich das Ende der Pein. Wirf von dir die Kette von Geburt und Tod – du weißt, was sie bedeuten.“

Hier ist das Vertrauen in das eigene Wissen, unseres eigenen Körpers und Geistes. Keine Angst vor dem Tod. Keine Angst vor dem Leben. Ein jeder Mensch vertraut auf seine ihm innewohnende Kraft, macht sich unabhängig von einer Macht, die scheinbar nur für ihn handelt und bestimmt wie zu Leben ist. Welche Kraft soll den wohin führen? In die Zufriedenheit aller Menschen? In die Erhaltung von Natur und Kosmos? In die digitale Welt ohne menschliche Nähe? Kinder aus der Retorte? Alte Menschen und Robotik? Krankenpflege und Computer? Wo sind die Erkenntnisse von Psychologie, Pädagogik, von Soziologie und Quantenphysik, von der Humanität?

Hier steht „Zerreiß die Bande“, löst euch von Begrenzungen, Beengungen, Verengungen, Einschnitten, die das menschlich Sein zum Erliegen bringen.

Wenn wir als individueller Mensch dies angreifen, uns trauen, uns und unserer eigenen Stimme, dann sagt der Vers:

„So, von Verlangen befreit, sollst du im Erdenleben ruhig und heiter ziehn deines Weges.“

Ja, das Verlangen nach Gesundheit, das Verlangen nach ewigem Leben, das Verlangen nach Bedürfnisbefriedigung, das Verlangen nach…, immer wieder Verlangen nach…- genau dies ist stets zu hinterfragen.

Die kleine Kalea, die Mittwoch operiert wird, hat nicht verlangt, krank zu sein, dennoch geht sie ihres Weges, egal, wie dieser aussieht. Sie tut dies mit uns allen an ihrer Seite, so dass ihre eigene Stimme ihr sagen kann:

Ja, befreit von allem Verlangen, ziehe ich ruhig und heiter meines Weges.

Dies wünsche ich allen Menschen auf der Erde. Im Schmerz das Verlangen sterben zu lassen. In der Gier, das Suchen zu vergessen. Im Zustand der Macht, die Mächtigkeit abzugeben. Das ist Vertrauen. Das ist Menschlichkeit.

Der Vers heißt:

  1. Verzicht

Mach dich frei von Lebenslust, von Dünkel,

Von Unwissenheit und der Zerstreuung Wirrsal;

Zerreiß die Bande; so nur erreichst du

Wirklich das Ende der Pein. Wirf von dir die Kette

Von Geburt und Tod – du weißt, was sie bedeuten.

So, von Verlangen befreit, sollst du im Erdenleben

Ruhig und heiter ziehn deines Weges.

(Der Buddha, Psalmen der frühen Buddhisten, I, Ivi, Das tibetische Totenbuch, Walter Sonderausgabe 1995, S. 17)

Alles Gute für alle Menschen!

Brief an Angela Merkel

                                                                                                                                                            28. April 2020

Sehr geehrte Frau Angela Merkel,

Sie sind seit dem 22. November 2005 unsere Bundeskanzlerin. Sie sind eine gebildete Frau, von der ich hoffe, dass Sie dies nicht im Angesicht der vielen Jahre in einem Machtgefüge vergessen haben.

Wie Sie dem Briefkopf entnehmen, bin ich Philosophin, aber dies war ich nicht immer. Ich werde in diesem Jahr 60 Jahre alt. Ich habe als junge Frau von 18 Jahren den Beruf der Kinderkrankenschwester erlernt, arbeitete 12 Jahre in diesem Beruf, vor allem auf einer Frühgeborenen Intensivstation, d.h. ich weiß, wie es in Krankenhäusern zugeht. Über den zweiten Bildungsweg machte ich mit 32 Jahren Abitur und studierte auf Lehramt für die Sek I Mathematik, Ökotrophologie und Pädagogik. In meinem Lehrerberuf wurde ich noch Ausbilderin für Mathematiklehrer am Studienseminar. Auch diesen Beruf übte ich 12 Jahre aus. Eine Erkrankung führte dann zur Frühverrentung. Dennoch gab ich nicht auf. Ich nahm das Studium der Philosophie auf und promovierte 2018 an der Karls-Universität in Prag. Das heißt, Sie haben es hier mit einer Person zu tun, die ebenfalls gebildet ist. Diese Bildung erweiterte ich in den letzten 15 Jahren durch eine zen-buddhistische Praxis, die mich zusätzlich die Weisheit lehrte.

Daher erlaube ich mir die folgenden Worte. Es war einmal ein Land, in dem ein Mädchen groß wurde, das für Demokratie und Meinungsfreiheit stand. Es war einmal ein Land, in dem eine Frau ihren Berufsweg ging mit freier Entscheidungsmöglichkeit. Es war einmal ein Land, in dem eine Frau, die alt wurde auf etwas traf, dass sie in der Schule gelernt hatte und mit dem sie sich viele Jahre in Form von Büchern auseinandersetzte. Ihr Schwiegervater war Stalingradkämpfer gewesen und sieben Jahre in sibirischer Gefangenschaft. Sein Leben verdankte er dem spontanen Einsatz einer jüdischen Ärztin, die ihm Adrenalin in sein stillstehendes Herz spritzte. Durch ihn wusste sie von einem anderen Land.

Jetzt ist ein Land zu sehen, dass dem der Vergangenheit in der jungen Erwachsenenzeit meines Schwiegervater ähnelt. Es wurden Gesetze durch die Legislative gebracht, die es ermöglichen, den Bürgern des Landes etwas von ihrer Freiheit zu nehmen. Sie bekommen Verbote, und bei deren Nichteinhaltung wird die polizeiliche Gewalt benutzt und eine Bestrafung eingeführt.

Den Menschen wird wie eine Art Gehirnwäsche jeden Abend auf allen Kanälen im Fernsehen zur Hauptsendezeit eine Sondersendung zugemutet, die Berichte zeigt, die mit keinem einzigen Wort wissenschaftlich belegt sind. Wo sind die Forschungen der Wissenschaft der letzten 100 Jahre?

Die Soziologie erforschte, was mit Menschen passiert, die in Isolation leben; häusliche Gewalt, Suizid, Scheidungen. Die Pädagogik erforschte, was mit Kindern geschieht, wenn sie keinen Austausch zum Wachsen und Reifen in heterogenen Gruppen haben. Die Philosophie weist in vielfältiger Literatur auf Staatengebilde und deren Aussehen und Wirkungen hin. Die Psychologie erforschte Menschen, die keine Aufgabe mehr haben, die sich verlieren – Viktor Frankl ist da der Name, der hier gerade besonders passt. Dazu gehören Untersuchungen über Suizid-Raten und Hospitalismus. Die Ökologie weist auf die Folgen der Ausbeutung hin. Die Biologie (Maturana und Varella, Der Baum der Erkenntnis) weisen nach, dass nicht das Milieu die Zelle bestimmt, sondern die Zelle nimmt sich, was sie braucht. Wer ist jetzt diese Zelle, die sich nimmt? Wo sind diese wissenschaftlichen Erkenntnisse vom Menschen jetzt?

Die WHO legt folgende Definition für Gesundheit fest:

„Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.“

Derzeit, wo wir alle eine besonders gute Gesundheit brauchen, wo die Angst vor Ansteckung wie ein Feind umherzieht, wird uns das körperliche Wohlergehen genommen (z.B. die Sportvereine und Fitnessstudio-Besucher/Innen), das geistige Wohlergehen (z.B. Theaterbesuch, Kino, Konzerte, Bibliotheken) und das soziale Wohlergehen (z.B. Vereinsbesuche, Nebenjobs als Kellner, Zimmermädchen, Kinderfrau, mit Freunden einen Restaurantbesuch, in Urlaub fahren…).

Was passiert hier? Ist die Antwort in einer digitalen Welt zu finden? Macht sich der Mensch selbst zu einer künstlichen Intelligenz? Geld brauchen wir nicht mehr. Es gibt ja Bitcoins. Notare und Ärzte brauchen wir nicht mehr. Es gibt ja Blockchain und die digitale Antwort auf alle Gesundheitsfragen. Wir brauchen auch kein Kino mehr, weil es gibt ja Stream und einen Anbieter dafür. Wir brauchen keine Konzerthalle mehr, weil es gibt ja Youtube. Ein Zukunftsszenario des Club of Rome für das Jahr 2052 legt folgendes auf der Seite 383 dar: „Erziehen sie ihre Kinder nicht zu Naturliebhabern. […] Wenn sie ihrem Kind beibringen, die Einsamkeit der unberührten Wildnis zu lieben, wird es etwas lieben, das es immer seltener geben wird. [Wenn ihr Kind das nächste Mal am Computer sitzt, sagen sie lieber nichts.]“

Wollen Sie eine derartige Welt? Jetzt scheint eine Entscheidung zu fallen. Hält uns die Angst vor der Fremdheit eines Virus in Griff, der bis jetzt – egal, wo die wirkliche Wissenschaft zu Wort kommt -, als nicht gefährlicher als andere Influenza-Viren eingestuft ist, so rutschen wir in eine Welt, die an die Zeit von 1930 erinnert.

Ich wurde 1960 geboren. Ich erlebte diese Zeit nicht. Jedoch die Arbeit in der Meditation lehrte mich die Schatten und das Licht des Menschen zu sehen. Derzeit finde ich es mehr als bedenklich, was hier gerade in diesem Land geschieht, in dem ich geboren wurde, in dem ich 60 Jahre in Freiheit lebte und in dem ich nun mit Freiheitsberaubung, Ausgehverbot und Versammlungsverbot sitze. Lautsprecher fuhren durch die Straßen und verboten das Hinausgehen. Klingelt es da bei Ihnen nicht? Sind Sie schon so weit von der Basis weg, von deren Existenzen jetzt tausende zu Grunde gehen. Statt Billionen in Sondergelder zu stecken, wäre, wenn es wirklich sinnvoll hätte sein sollen, dies ein Gesetz für die Grundsicherung gewesen. Wichtiger als ein Gesetz für die Ermöglichung von Versammlungsverbot und Ausgehverbot – Gesetze gegen unser Grundgesetz!

Wissen Sie eigentlich wie das ist, wenn Sie am Ende des Monats nicht mehr wissen, wie Sie ihr Brot bezahlen sollen? Wissen Sie eigentlich wie es ist, wenn Sie am Anfang des Monats nicht wissen, wie sie die Miete bezahlen sollen oder die Versicherung? Wissen Sie, dass es Frauen gibt, die drei oder vier Jobs haben, um über die Runden zu kommen? Sie nehmen diesen Menschen Ihr Leben. Selbst, wenn Sie alle Menschen finanziell unterstützen könnten – was Sie nicht können – fallen Tausende durch das Raster. Es bleibt die wissenschaftliche Erkenntnis im Raum stehen, dass der Mensch eine Aufgabe braucht.

Sie nehmen den Menschen derzeit nicht nur ihre existenzielle Grundlage, sondern auch die Menschliche. Dies klage ich an!

Ich erwarte von Ihnen als gebildete Frau, dass Sie sich Ihres eigenen Verstandes bedienen und diese grundgesetzverachtenden Gesetze so schnell wie möglich aufheben, dass Sie den Menschen ihre Menschlichkeit zurückgeben. Ein Mensch in Isolation ist manipulierbar und verachtet. Nur Menschen in einer Gemeinschaft haben Siege und Erneuerungen davongetragen. Die Wiedervereinigung vor 30 Jahren zeigt dies mehr als deutlich.

Stellen Sie sich die Fragen:

Wo wollen Sie leben?

Wie wollen Sie leben?

Was wollen Sie sein?

Wollen Sie wirklich den Schaden so vergrößern, dass die totalitäre Macht gewinnt?

Kennen Sie die Verlierer-Seite oder nur die Gewinner-Seite?

Von was lassen Sie sich manipulieren?

In diesem Sinne grüßt Sie eine gebildete und weise Frau, Philosophin und Zen-Lehrerin, die sich auf Ihre Antwort freut.

Mit freundlichen Grüßen