Trauer und Abschied

Absolute Präsenz und beständige Abwesenheit

Wie ihr alle wisst, bin ich eine Zen-Frau. Sicherlich noch keine formelle, die ich wahrscheinlich gar nicht mehr werden kann, weil ich so lange gar nicht leben kann und auch die finanziellen Mittel dafür nicht habe, aber ich bin eine wirklich gute informelle Zen-Frau, die mit ihren eigenen Erfahrungen die Praxis des Zazen mit Freude weiterreicht.

In diesem Zusammenhang begann ich vor mehr als einem Jahr Frauenbücher zu studieren, die von Zen-Frauen geschrieben wurden oder über Zen-Frauen berichten. Eines dieser Bücher ist „Das verborgene Licht“ von Florence Caplow und Susan Moon. Es ist ein dickes Buch voller Geschichten und Kommentaren. Zen-Geschichten, in denen Frauen eine Rolle spielen. Zen-Geschichten, die von Zen-Frauen kommentiert werden.

Eine dieser Geschichten stammt aus England im 21.Jhd. Ja, es gibt nicht nur alte Geschichten. Zum Chan-Meister John Crook kommt eine trauernde Frau und sagt zu ihm: Meister wahrhaftig- Präsenz ist unbeständig, aber Abwesenheit ist beständig. Er antwortet: In der Tat. Was hat die Frau verstanden?

Hilary Richards, eine Retreat-Leiterin in der Tradition von John Crook, eine Ärztin im Ruhestand kommentiert dieses kleine neuwertige Koan. Sie greift die Trauer der Frau auf. Sie habe vielleicht ihren Mann, ein Kind oder ein Elternteil verloren. Ihr Herz ist traurig.

Mich hat an diesem Koan das fasziniert, was die trauernde Frau sagte. Präsenz ist unbeständig. Abwesenheit beständig. Was bedeutet dies?

In der Zen-Praxis sind Fragen wichtiger als Antworten, ist Erstaunliches sinnen-voller als Stumpf-sinniges, ist Alltägliches so wichtig wie der heiligste Moment. Jeder heilige Moment umgreift die gesamte Welt. Kein Ausschluss. Schönes. Dankbares. Hässliches. Undankbares. Wir gehen nicht hier hin oder dorthin. Wir laufen nicht weg und suchen.

So steht denn auf dem Han-Brett, das im Kloster vor der Zazen-Praxis geschlagen wird:

Leben und Tod sind große Dinge. Vergänglichkeit ist hier. Lass jeden erwachen im Erkennen dieses Fakts. Sei immer ehrerbietig, verausgabe dich nicht in Zerstreuungen und Ablenkungen. Vermassele es nicht. Faulenze nicht.

Was hat das mit Präsenz und Abwesenheit zu tun? Präsenz ist allgegenwärtig sein. Früher sagt man, dass es jetzt zur Hand ist. Es ist nicht anderswo. Wenn wir trauern, sind wir nicht anderswo, sondern wir sind genau hier bei uns. Wir empfinden Weinen, Wut, Erinnerung, Glauben, Liebe, Hass- einfach alles, was mit einer Trauer verbunden sein kann. Und das bedeutet, dass wir genau hier uns trauen, dies alles geschehen zu lassen.

Wir verlieren uns in Trauer. Viele denken, dass dies schlecht sei. Das ist es jedoch nicht. Sich in Trauer verlieren, heißt, den Verlust lebendig auferstehen zu lassen, sich nicht davonstehlen. Wir trauen uns zu, den Abschied in die Hand zu nehmen und dem Verlieren, dem Verlust einen Raum zu lassen.

Ich weiß nicht, ob ich es schon einmal erwähnte. Ich habe in meinem Leben viele Menschen durch den Tod verloren. Meinen Vater schon mit fünf Jahren. Meine Schwester als ich 17 Jahre war. Meine beiden besten Freundinnen als ich 36 Jahre alt war. Meine innigste Vertraute meine Schwiegermama. Ja, ihr lest richtig – die Schwiegermama! Ja, und im letzten Jahr begleitete ich meine Mutter in den Stunden vor ihrem Tod und bei ihrem Sterben. Es waren zwei Tage in meinem Leben, die ich nicht missen möchte. Der Augenblick ihres Abschiedes von diesem Leben in ein Leben, welches wir nicht kennen, war mit das Schönste, was ich je in meinem Leben gesehen habe. Dafür bin noch heute unendlich dankbar. Ja, sie traute sich auch. Sie signalisierte den Ärzten ganz klar, dass sie keine weitere Therapie mehr wünsche. Sie nahm Abschied von ihrem Leben, von ihrem Sein. Sie war froh, dass da eine Stimme an ihrer Seite war. Das spürte ich deutlich. Dieser Augenblick ihres sich vollkommenen Verlierens, ihr Verlassen ihres eigensten ichbehafteten Seins, das sie über 80 Jahre lebte, dieser Augenblick war absolute Präsenz, die sich in einem Gesicht entfaltete das ein ganzes Leben zeichnete. Gleichzeitig existierte die beständige Abwesenheit. Sie gehörte nicht mehr hier in die uns bekannte Wirklichkeit, sondern sie betrat die wirkliche Wirklichkeit, die jedes Wirken kennt. Sich zu trauen, bedeutet Abschied nehmen von Bekanntem, heißt eine neuartige Perspektive zu umgreifen, bedeutet erstaunliches Tun ohne einen Ausschluss. Denn jede Verneinung beinhaltet ein Nein an Perspektiven, die vielleicht gerade unsere Trauer lebendig werden lassen könnte, die sich im Trauen der absoluten Präsenz zeigt.

Die Zeit, in der wir gerade leben, verneint gerade in vollen Zügen alles, was wir Menschen bisher als Wissenschaft bezeichnen. Pädagogik. Psychologie. Ökologie. Medizin. Ökonomie.  Wir trauern nicht nur unseren Verlusten (Versammlungsfreiheit, Kultur) nicht hinterher. Nein, wir trauen uns nicht einmal zu verlieren. Wir wollen gewinnen um jeden Preis. Auch im Angesicht eines unbekannten Wesens, dem wir einfach nur trauen, vertrauen sollten, um von ihm zu lernen, was es noch für Perspektiven von Leben gibt, schreien wir unsere beständige Abwesenheit von uns selbst hinaus. Wir verbringen Stunden vor einer Leinwand, die beständig Zahlen in Bildern umwandelt. Bilder wie Buchstaben, Farben, Videoclips, Musikvideos, Filmwelten oder Werbeaufnahmen. Wir sind niemals bei uns selbst, sondern immer irgendwo unterwegs.

Doch alle Weisen dieser Welt, zu jeder Zeit und in jedem Erdkreis wussten um den Wert der Trauer, weil sie die Präsenz und die Abwesenheit verdeutlicht. In der Trauer um jeden Augenblick, der im Fußabdruck im Schnee sichtbar wird, geschieht das Wertvollste – die Begegnung von absoluter Präsenz mit der beständigen Abwesenheit.

Jeder Druck auf die Taste A ist Trauer, weil wir uns erstens trauen, dies zu tun und zweitens, weil wir Abschied nehmen von diesem Augenblick, in dem unser eigenster Finger genau diesen Augenblick absolut präsent war, bevor er in die beständige Abwesenheit versinkt. Seien Sie doch einmal ehrlich, wann denken Sie an ihren kleinen Finger der linken Hand?

Es scheint alles so weit weg. Das kann gar nicht sein. Doch tatsächlich ist jeder Augenblick die Begegnung von absoluter Präsenz und beständiger Abwesenheit. Welchen Anteil wir vergrößern, kommt auf unsere Fähigkeit an trauern zu können.

Unsere derzeitige Welt kann uns trauern lehren. Menschen verhungern weltweit, weil wir hier in der westlichen Welt meinen, wir müssten uns schützen. Tiere sterben, die bis vor kurzem noch von Tierhütern beschützt wurden. Pflanzenwelten werden vernichtet, weil wir z.B. Verpackungsmaterial und Masken produzieren müssen, um die Bedürfnisse einer wertevernichtenden Welt zu befriedigen.

Hier ist Trauer mehr denn je angezeigt. Eine Trauer, die ein sich trauen beinhaltet. Trauen aufzustehen und vorwärts zu gehen. Trauen die Stimme zu erheben. Trauen Widersinniges aufzudecken. Eine Trauer, die ein trauen ist, die absolute Präsenz eines jeden einzelnen Wesens zuzulassen, weil wir nicht wissen, welche Bedeutung es im gesamten Werk der Welt besitzt.

Eine Trauer, ein Trauen, das gepaart ist mit unserer beständigen Abwesenheit von dem Augenblick des geraden tuenden Geschehens, deren Wert im Bemerken genau dieser Abwesenheit liegt. Das ist die Aufgabe einer Zazen-Praxis. Zazen-Praxis ist das Üben von Trauer.

Zazen im Zenhof Rödental e.V.

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