Heute ist der 2. November 2020. Dieses Jahr steht und stand bisher unter einem besonderen Zeichen. Ein Lebewesen, das von uns laut Definition so nicht bezeichnet wird, zeichnet uns. Was ist ein Lebewesen?
Es zeigt uns offen und hautnah, die Verbundenheit aller Wesen miteinander. Total global. Es legt den Finger in die Wunden der Menschheit. Tierhaltung. Tierschlachtung. Ausbeutung von Menschen. Soziales Sterben. Zerstörung ethischer Prinzipien im Angesicht von Alter und Tod. Genau hier weist das Wesen auf Unmenschlichkeit, auf Ausbeutung, auf Machtgier hin.
Es werden Gesetze zum Schutze der Menschen geändert. Es werden Regelungen eingeführt, die dem Schutz der Menschen dienen.
Genau vor 85 Jahren, 1935, war auch ein besonderes Jahr unter einem besonderen Zeichen. In Deutschland beginnt das NS-Regime seine Macht. Es höhlt den Friedensvertrag von Versailles aus, der genau vor 100 Jahren im November 1920 nach dem ersten Weltkrieg unterzeichnet wurde.
Es wurden Gesetze eingeführt, die eine Minderheit, „zum Schutze des deutschen Volkes“ verfolgen. Diese Minderheit wurde im Folgenden um weitere „Minderheiten“ ergänzt.
Auch diese Zeit ist wie eine Art Lebewesen. Sie legte die Finger in die Wunden der Menschheit. Unmenschlichkeit wurde sichtbar. Machtgier erlaubte sich Übergriffigkeiten. „Zum Schutze des deutschen Volkes“.
Dies sind Ereignisse, die die Welt prägten. Prägungen, die bis heute unvergessbar sind. Prägungen, die sich über Generationen in den Menschen verankert haben. Ereignisse, die Einzelschicksale zu Massenschicksalen werden ließen.
Wo stehen wir nun? Was tun wir? Was ist richtig? Was ist falsch? Was bedeutet dies für die kommenden Generationen? Was für die Menschheit?
Wie Ihr alle wisst, bin ich Philosophin. Philosophen stellen Fragen. Dies ist ihr Hauptfachgebiet. Sie sehen Fragen, wo andere gar keine sehen, weil doch alles klar ist. Philosophen sind jedoch irgendwie anders. Sie sehen auch noch Fragen, wenn scheinbar alles klar ist.
Ich stelle mir gerade als Philosophin eine solche Frage.
„Was wäre, wenn das Ziel der Menschen, „menschliche Menschlichkeit“ in allen Entscheidungen wäre?“
Auf den ersten Schritt scheint diese Frage leicht beantwortet zu sein. Aber das ist sie ganz und gar nicht.
Erstens: Was ist überhaupt „menschliche Menschlichkeit“?
Zweitens: Was ist ein Ziel?
Drittens: Was ist eine Entscheidung?
Viertens: Warum steht diese Frage im sprachlichen Konjunktiv, einer Möglichkeitsform?
Vor einigen Jahren schrieb ich meine Masterarbeit, die den Titel hat „Was ist „menschlich sein“ unter den Bedingungen der radikalen Lebensphänomenologie von Michel Henry. Herausgearbeitet habe ich eine „menschliche Menschlichkeit“, die sich durch etwas Besonderes auszeichnet, nämlich die Fähigkeit zur „pathischen Ratio“.
Diese „pathische Ratio“ definierte ich als das „In-sich-selbst-verstehende-Erkennen“. [1]
Setzen wir nun voraus, so wie ich es in meiner Arbeit tat, dass diese Fähigkeit dem Menschen innewohnt, so könnten wir nun sagen, dass diese Fähigkeit zu einer anderen Art von Entscheidungen führen würde. Warum?
Wenn jeder Mensch auf dieser Welt diese Fähigkeit erlernt und ausgebaut hätte, sich selbst zu verstehen und zu erkennen, dann hätte er seinen Logos, verstanden als ein Sammeln von eigensten Erfahrungen und Erkenntnissen[2], eingesetzt für ein „Reif-werden“ der eigenen Spezies Mensch und seinem individuellen Mensch-Sein.
Eine noch so intelligente Maschine gelingt dieser Prozess des „In-sich-selbst-verstehenden-Erkennen“ nicht, weil sie so programmiert sein müsste, dass sie die Gesamtheit aller Wesen in dieser Fähigkeit kennen müsste. Dies würde ihm immer noch nichts nützen, weil diese Maschine nicht wüsste, was sein individuelles „In-sich-selbst-verstehendes Erkennen“ ist. Denn das Besondere der pathischen Ratio ist seine uneingeschränkte Individualität. Jeder Mensch auf dieser Welt wächst in seiner eigenen Zeit, seiner eigenen Art mit dieser pathischen Ratio zu dem, was er als Mensch ist. MENSCHLICH.
Was ist ein Ziel? Für jeden einzelnen Menschen wäre dies ja bereits gesetzt durch das Erforschen des eigenen „In-sich-selbst-verstehenden-Erkennen“. Doch, welches Ziel kennt dann diese menschliche Menschheit für alle?
Das Wort Ziel[3] ist in seiner Wortherkunft ein deutsches Wort. Das heißt, das Volk der Germanen erschuf es. Es steht für eine Absicht. In seiner Wortherkunft ist seine Bedeutung jedoch weiteraus größer. Ein Ziel zu kennen, bedeutet, sich anzustrengen, sich zu bemühen. Es steht für, sorgen für, anbauen und bestellen, für sich auf etwas beziehen. Bleiben wir bei diesen Wortherkunftsbedeutungen des Wortes Ziel, so ergibt sich als logische Folge, dass wir als menschliche Menschheit uns zum Ziele setzen, dass wir uns aufeinander beziehen, dass wir etwas anbauen und bestellen.
Übertragen wir dies auf alle Lebewesen, so bedeutet, dies, dass mit der pathischen Ratio eine Erweiterung stattfindet, die wirklich alles aufeinander bezieht.
Es gibt keine Isolation.
Alles bezieht sich aufeinander. Ein menschlicher Mensch im Sinne eines „In-sich-selbst-verstehenden-Erkennen“ kennt die Grenze eines Ichbezogenen Menschen nicht mehr. Dieser Mensch baut an und mit sich selbst und der gegenseitigen Aufeinander Bezogenheit. Dabei bemüht er sich. Er strengt sich an.
Dieser Mensch bestellt eine Erde, die die gegenseitige vollständige Abhängigkeit kennt, weil er in seinem „sich-selbst-verstehenden Erkennen“ begriffen hat, dass sein Körper und Geist sich aufbauen und gegenseitig bestellen.
Eine Leberzelle greift mit der Darmzelle. Eine Speichelzelle mit einer Magenzelle. Ein Gedanke mit Sodbrennen. Eine Angst mit Schmerzen.
Übrigens wäre dies eine neue Frage: Ist das Wesen Schmerz derzeit vermehrt in Behandlung bei Ärzten?
Doch kehren wir zurück. Aus dem Verstehen dieser wechselseitigen und auf Dauer verbundenen Welt erkennt der menschliche Mensch, dass seine Entscheidungen nur dann zum Ziele aller (z.B. aller seiner Zellen) werden kann, wenn dieses Ziel etwas aufbaut und nicht zerstört, weil dies würde zu einer Selbstbeschränkung führen, die wiederum die menschliche Menschlichkeit vernichten würde.
Diese menschlichen Menschen entscheiden also nicht in Form von „Du sollst“ Regeln im Sinne der Kant’schen Logik, sondern diese menschlichen Menschen entscheiden in der Form der pathischen Ratio. Dies würde bedeuten, dass es kein Abwägen in Form eines Für und Wider geben würde, weil das Abwägen in jedem Menschen selbst stattfände. Ja, es hätte vielleicht zur Folge, dass die menschliche Menschheit mit Folgen konfrontiert würde, die sie nicht kennt, aber ist das nicht immer so? Die pathische Ratio studiert sich jedoch immer wieder neu. Was ist das, was mir nun begegnet in meinem „In-mir-selbst-verstehenden-Erkennen“? Was bin ich selbst unter diesen Bedingungen und Umständen?
Ein Abwägen in Form von „Du sollst“ Regeln führt zu Verletzungen der Menschlichkeit, weil deren „Selbst-Verstehen“ unterbrochen wird. Es werden Regeln gesetzt, die Fragen und Hinterfragen für unnötig erklären, sogar für „unlogisch“, weil die Regel die Antwort ist.
„Dieser Lockdown funktioniert nur, wenn die Deutschen das logische Denken sein lassen.“
Eine derartige Entwicklung führt nicht zu einer Entwicklung des Logos des Mensch-Seins, sondern zu deren Vernichtung. Ein menschlicher Mensch schöpft sein Potenzial in vollem Umfang aus, wenn er das „In-sich-selbst-verstehende-Erkennen“ tut. In diesem Moment bedarf eine Gesellschaft keiner Regeln mehr, weil sie bereits die eine Regel des menschlichen Mensch-Seins ist. Das „In-sich-selbst-verstehende-Erkennen“.
Ja, das bedeutet auch die menschliche Seins-Form zu verändern. Manchmal bis zur totalen Veränderung des menschlichen Menschen, die wir Tod nennen. Jedoch kein Wesen dieser Welt stirbt nicht.
Es ist das Besondere des menschlichen Menschen, dass gerade seine pathische Ratio ihn befähigt, dies im wahrsten Sinne des Wortes logisch als ein „In-sich-selbst-verstehendes-Erkennen“ als ein Sammeln zu erkennen.
In diesem Sinne wünsche ich uns allen eine sich ausbreitende pathische Ratio, die die Lebewesen der Welt nicht vernichten, sondern achten und mit allem leben, so wie es ist, frei von Gier, Hass und Verblendung in der Hoffnung, dass es nicht im Konjunktiv als Möglichkeit besteht, sondern im Indikativ als Wirklichkeit.
Danke an alle Wesen!
Literaturverzeichnis
[1] „Im 25. Jhd. ist der lebendige Transzendentalismus selbstverständlich, indem das „In-sich-selbst-verstehende-Erkennen“ als pathische Ratio aus der Logik eines Lebens als Logos des Lebens verbunden mit dem Lebenswissen gegeben ist.“ Wilmes 2017, S. 118
[2] Tischner Heinrich 2016.
[3] https://www.dwds.de/wb/Ziel, Zugriff am 02.11.2020, 12 Uhr.