Liebes Virus

In den letzten Monaten hast du uns vieles gelehrt. Du hast uns gelehrt:

Masken zu tragen und vom Mitmenschen Abstand zu halten. Du ließest zu, dass alte Menschen alleine sterben, dass Kinder keine anderen Kinder zum spielen haben, dass Mütter in Verzweiflung gerieten, weil sie nicht wissen, was sie mit ihren Kindern machen sollen, wenn sie arbeiten gehen müssen. Du hast uns Aufgaben gegeben, die wir nicht geahnt hätten lösen zu können, aber wir konnten. Du bist der Verursacher aller dieser Maßnahmen, ohne dass du dich je dazu äußern könntest, weil deine Stimme ist unbekannt wie ein Fremdsprache. Bei Fremdsprachen sind wir neugierig, sie zu erlernen, aber dich will keiner haben. Seltsam.

Eigentlich bist du ja auch gar nicht der Verursacher dieser Lehren, sondern diese Lehren lehrt uns eine Macht, die Staatsmacht heißt.

In Wirklichkeit lehrst du uns etwas ganz Anderes. Du legst den Finger in die Wunden der Gesellschaft. Alte Menschen wohnen in Seniorenanlagen, so heißt es heute und nicht mehr Altenheimen. Fragt sich unsere Gesellschaft noch, ob das die richtige Wahl ist? Ist mit Geld und Pflegestufen das Alt-Werden des Menschen zu reglementieren, ohne dass die Menschlichkeit verliert?

Du zeigst uns, dass in Massenunterkünften, egal ob Tier oder Mensch, eine Lebenswelt existiert, die nicht lebenswert ist, weil der Wert des Lebens nicht gesehen wird, sondern nur der Geldwert.

Du zeigst uns die wachsende Zwei-Klassen-Gesellschaft, die sich immer mehr verbreitet. Es ist ein Unterschied in einem Einfamilienhaus mit Kindern zu leben oder in einer 50 qm großen Mietwohnung mit vier Personen. Es gibt noch gar kein Recht auf Arbeit im Grundgesetz, aber nun gibt es Forderungen nach einem Gesetz für Homeoffice. Welche Gesellschaft spiegelt sich hier?

Einführung in das Social Engineering + Teil-1 ...

Du zeigst uns, dass wir tatsächlich aus lauter Angst vor dem eigenen Tod und dem Tod anderer, wir wirklich lieber auf jede menschliche Nähe verzichten. Dass unsere Angst vor dem Tod so groß ist, dass wir uns gegenseitig voneinander entfernen und Medien und Politik die Entscheidungen überlassen.

Du zeigst uns, dass das globale Zusammenspiel keine Grenzen kennt.

Du gabst uns zu verstehen, dass wir nur hinschauen müssen, um zu erkennen, was für ein feines Netzwerk von Natur und Mensch besteht. Während sich die Menschen voneinander entfernen, werden Urwälder niedergemacht, die vielleicht gerade zu deinem Entstehen beigetragen haben oder dein Entstehen verhindern könnten. Die Grenzenlosigkeit des Zusammenspiels ist immer noch eine nicht akzeptierte Tatsache. Statt allein jeder für sich, wäre hier der Weg eines weltweiten menschlichen Tuns offen, dass wirklich Schritte in eine menschliche und naturfördernde gemeinsame Welt schafft. Fragen nach Energie, Ernährung, Wasser sind die Kernaufgaben der ganzen Menschheit. Die Grenzenlosigkeit des Zusammenspiels könnte jetzt geübt werden.

Nur ein landwirtschaftliches Feld?

Aber irgendwie liebes Virus sind die Menschen seltsame Wesen, statt die unverzichtbare menschliche Nähe, die überhaupt erlaubt, dass der Mensch sich fortpflanzen kann, dass er einen neuen Menschen aufziehen kann, dass er in Krankheit gepflegt werden kann, dass er Liebe und Freude teilen kann, erlaubt sich der Mensch auf all sein Menschlich-Sein zu verzichten, weil er vor dir und dem Deinen Angst hat.

Im großen Spiel des Lebens ist das wahrhaft ein deutliches Zeichen menschlicher Unreife, denn sowohl du liebes Virus als auch wir, also jeder Mensch, jede Pflanze, jedes Tier, einfach jedes lebendige Wesen stirbt.

Sollten wir in der Geschichte der Menschheit nicht mehr gelernt haben, als uns an Zahlen auszurichten, die auf Hypothesen beruhen?

Sollten wir Menschen nicht mehr gelernt haben, als dass die Isolation des Menschen, in diesem besonderen Fall sogar von Mensch zu Mensch, denn jeder könnte ja infiziert sein, uns mehr schadet als nützt?

Sollten die meisten Menschen nicht wissen, dass sie gesund sind, weil da gibt es ja so etwas wie ein Gefühl, eine innere Stimme? Aber die bringen wir schnell zum schweigen, denn die politische Macht und das mediale Gefüge, das uns eine Art Feindbild schenkt, die wissen, was zu tun ist?

Sollten wir nicht alle Menschen umarmen, den Kranken, den Sterbenden, den Gesunden, den Hoffenden, den Liebenden, den Hassenden, lehren uns das nicht die Religionen der Welt?

Innige Umarmung bei Freude, bei Trauer, bei Liebe, bei Hass?

Du, liebes Virus zeigst uns mehr als deutlich, wie unreif und wenig weise wir so verstandesmäßige Menschen sind. Unser Verstand funktioniert nur so lange nicht der Tod droht. Ist dieser in Sicht, dann greifen wir zu jedem Mittel, selbst wenn dies heißt, dein krankes Kind darf nur noch die Mutter oder der Vater besuchen, den Sterbenden darf nicht die ganze Familie besuchen, die Alten dürfen keinen Besuch im Heim empfangen, Intensivstationen sind wichtiger als menschlicher Kontakt, usw.

Als Philosophin stellt sich mir hier einfach die Frage, lieber Virus, brauchst du das alles wirklich oder willst du nur in Ruhe dich auch in diesem großen Kreislauf des Lebens zeigen, gesehen werden, so wie wir, um dann in Ruhe sterben zu können wie jeder Mensch auf der Welt.

Lass uns von dir lernen, wie du lebst, was du uns zeigen möchtest. Gib uns die Möglichkeit der Welt ein Gesicht zu geben, dass die Menschlichkeit als weises Fundament nicht vergisst, um dir und uns allen ein gutes Leben zu ermöglichen.

Im Buddhismus spricht man von der Ungetrenntheit der Dinge. Was sollte mich von dir trennen, Virus? Du bist schon längst da. Du lebst. Du stirbst. Das normale Werden und Vergehen.

Warum sollten wir die Menschheit aufs Spiel setzen, die du doch nur unterstützen würdest, wenn wir dich lassen würden. Du kennst die Pflege, die Zuwendung, das Versorgen.

Wenn der Mensch dich lieben lernt, lernt er sich selbst kennen wie er jetzt ist, denn du bist hier, wie ein Spiegel unseres Seins.

Du sagst einfach: Schaut, was ihr aus mir macht?

Aber, das bin nicht ich!

4 Antworten auf „Liebes Virus“

  1. Hallo,

    ich finde die Wendungen des Textes interessant. An vielen Punkten kann
    ich sie verstehen, denke dabei aber doch (zum Teil) anders.

    > Im Buddhismus spricht man von der Ungetrenntheit der Dinge.
    > Was sollte mich von dir trennen, Virus? Du bist schon längst
    > da. Du lebst. Du stirbst. Das normale Werden und Vergehen.

    Gemäß dieser absoluten Akzeptanz, wäre das nicht auf auf die zuvor
    genannten Punkte anzuwenden? Auch das Sterben der Menschen ist Teil des
    Daseins. Durch unser unterscheidendes Denken erst wird das Sterben der
    Alten in Einsamkeit zu etwas negativem. Genauso auch das Handeln des
    Staates und die Spaltung der Gesellschaft. All dies sind Dinge die eben
    genau aus der Ungetrenntheit der Dinge, Leerheit, entstehen. Die Form
    kommt erst durch uns. Während wir die eine Form wollen lehnen wir eine
    andere ab. Das zu erkennen und dann Weise handeln ist der Knackpunkt.
    Wie Dôgen schrieb:

    > Dich selbst vorantragen um die zehntausend Dinge zu bezeugen ist Verirren.
    > Dass die zehntausend Dinge fortschreiten und dich übend bezeugen ist Erwachen.

    > Wer zum Verirren erwacht: ein Buddha.
    > Wer sich im Erwachen verirrt: ein gewöhnliches Wesen.

    > Manche erwachen noch aus dem Erwachen. Andere verirren sich inmitten
    > des Verirrens.

    Betrachtet man die Maßnahmen, aber auch die Gesellschaft im Ganzen, so
    gibt es immer „Gewinner“ und „Verlierer“, Menschen die „Leiden“ und
    welche voller „Glück“. Glück/Leid und Gewinner/Verlierer hängen stark
    davon ab wie unsere Werte, Wünsche und Hoffnungen aussehen. Diese Werte,
    Wünsche und Hoffnungen werden mit durch die Gesellschaft geformt,
    gleichzeitig geben wir einen Impuls zurück, hinein in die Gesellschaft.
    Geben wir dem Wert der persönlichen Nähe auf und akzeptieren das
    gestiegene Risiko einer Infektion, oder übersteigt der Wert des Treffens
    das Risiko? Das ist schon individuell eine schwierige Frage, wenn es nur
    mich selbst treffen würde. Gerade aber eine Pandemie macht die
    Ungetrenntheit deutlich, man kann potentiell Menschen infizieren die
    sich zufällig im selben Raum aufhalten. Wie also handeln?

    Ich persönlich denke, dass es wichtig wäre die Diskussionen, auch bei
    den Pandemie-Maßnahmen, differenzierter zu führen. Es geht u.a. um
    Wissenschaft, Politik und um unsere persönlichen Werte- und
    Lebensvorstellungen. Auch diese Dinge sind voneinander abhängig, aber
    dennoch ist eine Diskussion der Werte etwas anderes als eine Diskussion
    um die Wirksamkeit von z.B. Medikamenten. Gerade für die Frage der Werte
    aber reicht nicht einfach eine Chatzeile aus. Dafür braucht es ein
    Auseinandersetzen mit dem Ich, mit dem eigenen Weltbild und einen
    Austausch mit anderen Menschen – und an diesem Punkt mangelte es
    wahrscheinlich schon immer.

    Gasshô

    1. Hallo Kris, danke für diese wertvollen Zeilen.
      Der „Knackpunkt“ begegnet uns Augenblick für Augenblick,
      immer wieder neu, in anderer Gestalt, in anderer Form, so wie wir selbst auch.
      „Gerade aber eine Pandemie macht die
      Ungetrenntheit deutlich, man kann potentiell Menschen infizieren die
      sich zufällig im selben Raum aufhalten. Wie also handeln?“
      Ja, gerade das Virus zeigt uns Ungetrenntheit. Es kennt keine Grenzen und es kennt keine Unterschiede.
      Doch, in dem Moment, wo du sagst oder derzeit die Menschen sagen, dass „man“ infizieren kann und infiziert werden kann, entsteht der rein logische Bruch. Ich habe Mathematik studiert. Beweise führen, gehört dazu. Zu jedem Beweis gehört eine Voraussetzung. Diese Voraussetzung setzt sich aus bestehenden Erkenntnissen zusammen. Genau hier ist der Haken. Wenn die Vorausetzung falsch ist, ist jede Beweisführung und jede Folge daraus falsch. Dein benutztes „man“ zeigt schon die erste fehlerhafte Voraussetzung. Es geht nicht um „man“. Jedes Gesetz, jede Regel ist gleichbedeutend mit „man“. Wir sind jedoch wie du selber so wunderbar schreibst, ein „Ich“, was immer das auch sein mag. „Dafür braucht es ein Auseinandersetzen mit dem Ich, mit dem eigenen Weltbild und einen Austausch mit anderen Menschen.“
      In diesem Sinne ist jede einzelne Situation Augenblick für Augenblick selbst zu prüfen, weil du bist jederzeit anders und das andere auch. Daher gibt es den berühmten Spruch von Shunryu Suzuki Roshi, dass von 1000 Versuchen nur einer ins Schwarze trifft. Wir üben einfach weiter, Augenblick für Augenblick. Jetzt triffst du dich mit Menschen. Jetzt hältst du dich fern. Immer wieder neu. Immer wieder anders. Du entscheidest Augenblick für Augenblick neu. Genau das macht die Meditation Zazen. Sie lehrt dich das Sehen der Augenblicke.Ich wünsche Dir viel Freude beim Üben.

      1. Hallo,

        vielen Dank für die Antwort.

        Ja, der unweigerliche Gang von Augenblick zu Augenblick ist der Punkt. Der rein logische Bruch stellt sich für mich als unvermeidlich dar. Zwar haben wir in der Mathematik Regeln, wann etwas als ein Beweis gilt, aber sobald der mathematische Bereich verlassen wird sind diese Regeln auch schnell vergessen. Am Ende geht es um uns Menschen. Ob und welche Regeln der Beweisführung wir anerkennen ist ausschlaggebend dafür, welche Beweisführung uns logisch erscheint und welche nicht. Die zugrunde liegenden Beweise kann man dabei nur zu oft gar nicht wirklich überprüfen. Denn dafür fehlt schlichtweg das Wissen, Können und die Mittel. Der Spruch von Suzuki Roshi scheint mir da ganz passend zu sein. Was also bleibt ist das Vertrauen und der Gang von Augenblick zu Augenblick.

        Vielleicht ergibt sich im Laufe der nächsten Monate mal die Gelegenheit gemeinsam zu sitzen.

        Gasshô

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