Montag, den 20. April 2020 „Fremdheit“

Vor ein paar Tagen hatte ich einen Traum. Hinter einer Tür hörte ich Frauen miteinander reden. Eine der Stimmen kannte ich gut. Es war meine Freundin. Irgendwann öffnete sich die Tür. Ich weiß nicht wie, aber sie war plötzlich im Raum. Sie stand dort von einer Helligkeit umgeben. Obwohl ich wusste, das ist meine Freundin, lag da auch so etwas Fremdes. Ich frage mich: Was überwindet Fremdheit?

Fremd? Ungewohnt? Bedeutung?

Dazu muss ich natürlich erst einmal wissen, was überhaupt Fremdes ist. Zu allererst fiel mir ein Gedicht von Rainer Maria Rilke ein:

Das ist mein Fenster. Eben bin ich so sanft erwacht. Ich dachte, ich würde schweben.Bis wohin reicht mein Leben, und wo beginnt die Nacht? Ich könnte meinen, alles wäre noch Ich ringsum; durchsichtig wie eines Kristalles Tiefe, verdunkelt, stumm.Ich könnte auch noch die Sterne fassen in mir; so groß scheint mir mein Herz; so gerne ließ es ihn wieder los, den ich vielleicht zu lieben, vielleicht zu halten begann. Fremd, wie nie beschrieben, sieht mich mein Schicksal an. Was bin ich unter diese Unendlichkeit gelegt, duftend wie eine Wiese, hin und her bewegt, rufend zugleich und bange, daß einer den Ruf vernimmt, und zum Untergange in einem Andern bestimmt. Fremd wie nie beschrieben, also irgendetwas, was irgendwie unsichtbar, nicht beschreibbar ist. Aber, dennoch wissen wir, da ist etwas nicht nur Anders, sondern wirklich fremd.

Was ist Fremdheit? Das Wortherkunftslexikon (DWDS) beschreibt es mit unbekannt, untergegangenes im Nordhochdeutschen. Das ursprüngliche Wort soll von „fern sein“ stammen, aber es gibt auch einen Wortstamm, der steht für „tapfer“ und „Vorderster“. Wenn ich nun wieder fragen, wie kann ich die Fremdheit überwinden, d.h. wie kann ich das „fern sein“, das „tapfer“ sein, überwinden? Überwinden nicht im Sinne von vergessen, sondern wie kann ich mich so wenden, so drehen, dass das Fremde mir nicht mehr fremd ist? Das bedeutet Neuland betreten.

Neuland betreten, eine Tür öffnen, bedeutet ich muss tapfer sein, denn hinter der fremdartigen Tür ist alles möglich. Fremdheit kann jedoch nur überwunden, d.h. gewendet werden in ein mir Heimisches, wenn ich zulasse, dass dieses Neuland in all seinen Facetten sein darf wie es ist. Ein Virus mit Namen Corona ist Neuland. Kennenlernen tut ihn nun die Wissenschaft. Kennenlernen tun wir ihn auch. Wir haben Ausgangssperre und Kontaktverbote, obwohl die WHO sagt, das zur Gesundheit folgendes gehört:

„Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.“

Derzeit, wo wir alle eine besonders gute Gesundheit brauchen, wird uns das körperliche Wohlergehen teilweise genommen (z.B. die Sportlervereine und Fitnessclub-Besucher/Innen), das geistige Wohlergehen (z.B. Theaterbesuch, Kino, Konzerte, Bibliotheken) und das soziale Wohlergehen (z.B. Vereinsbesuche, Nebenjobs als Kellner, Zimmermädchen, Kinderfrau…).

Was passiert hier? Ist die Antwort in einer digitalen Welt zu finden? Macht sich der Mensch selbst zu einer künstlichen Intelligenz? Geld brauchen wir nicht mehr. Es gibt ja Bitcoins. Notare und Ärzte brauchen wir nicht mehr. Es gibt ja Blockchain und die digitale Antwort auf alle Gesundheitsfragen.

Wir brauchen auch kein Kino mehr, weil es gibt ja Stream und einen Anbieter dafür. Wir brauchen keine Konzerthalle mehr, weil es gibt ja Youtube.

Ein Zukunftsszenario des Club of Rome für das Jahr 2052 legt folgendes auf der Seite 383 dar: Erziehen sie ihre Kinder nicht zu Naturliebhabern. […] Wenn sie ihrem Kind beibringen, die Einsamkeit der unberührten Wildnis zu lieben, wird es etwas lieben, das es immer seltener geben wird. [Wenn ihr Kind das nächste Mal am Computer sitzt, sagen sie lieber nichts.]“

Wollen wir eine derartige Welt? Jetzt scheint eine Entscheidung zu fallen. Hält uns die Angst vor der Fremdheit in Griff oder die Tapferkeit und das Vertrauen in uns und unsere demokratische Gesellschaft mit einer Welt, der Nachhaltigkeit nicht mehr fremd ist, sondern so vertraut wie das eigene Leben? Ich wünsche mir bald wieder Menschen umarmen zu können.

Ich wünsche mir eine menschliche offene Menschheit ohne eine Angst vor Fremdheit, egal wie diese aussieht. So klein wie ein Virus oder so groß wie ein Mensch oder …… Neuland ist Entdeckung, ist Mutig-sein, ist Vertrauen-haben.

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