„Nähe und Distanz“, Sonntag, 10. Mai 2020

Bei einem kleinen Spaziergang an der Itz entlang, begegnete ich einem Angler auf einer der kleinen Brücken über die Itz.

Ich bleibe dort immer gerne stehen, schaue ins Wasser, sehe manchmal Fische und sogar Flusskrebse sichtete ich schon. Ich blieb eine Weile neben dem Angler stehen.

Natürlich in entsprechender Distanz. Doch war zwischen uns eigentlich keine Distanz. Irgendwie sprachen wir schon miteinander, ohne dass ein Wort gefallen war. Schließlich meinte er, dass die kleinen Fische mit dem Köder tanzen würden. Es sah wirklich so aus. Auf dieser Brücke stehend, kann man die Perspektive wechseln. Plötzlich scheinen die Bäume im Wasser echter zu sein als die in den Himmel Ragenden. Dies verleitete mich zu der Frage an den Angler: Was machen Sie, wenn Sie einen Baum angeln? Er antwortete so schnell: „Schimpfen“, dass ich lächeln musste, weil das war echtes Zen. Ohne Zögern, ohne Nachdenken kam das Wort heraus. Echt. Spontan. Authentisch. Wirklich.

Da war nichts zwischen, was es gehindert hätte, aus dem Mund zu kommen. Da war kein „äh“ oder „hm“, sondern Zak, da steht es im Raum. Das ist nicht nur Zen, sondern das ist absolute Nähe zu sich selbst. Da ist keine Distanz mehr zwischen dem Tun, dem Sein und einem Denken. Alles geschieht genau in diesem Moment. Da sind keine Zweifel, kein Zögern, sondern da ist die gerade Linie in dem direkt ausgesprochenen Wort „Schimpfen“. Genau diese Direktheit, die absolute Nähe zu sich selbst, die in sich selbst total verankert ist, erlaubt der oder die zu sein, die wir wirklich sind.

Die Zazen-Meditation übt dies. Sie schaut sich die Nähe an, die nicht durch ein hinaus zögerndes Denken eingeengt wird. Es ist eher ein im wahrsten Sinne des Wortes „Nach-denken“, das hier mit dem Atem ein-und ausgeht.  Es ist Etwas, das eben nach dem Denken steht. Es ist das wirkliche direkte an dem Ort sein, an dem wir gerade sind.

Menschen, Männer, Frauen, Jung, Alt, Ort, Banken, Park
Mit-ein-ander!

Wenn wir uns derzeit unsere Welt anschauen, ist die Nähe nicht nur zu uns selbst gefallen, sondern auch die Nähe zu den Menschen selbst. Zu uns selbst fällt die Nähe, weil die Menschen sich selbst nicht mehr vertrauen. Ein „Anderer“ muss sagen, was zu tun ist, damit sie selbst scheinbar weiterleben können. Welch ein Irrtum geht hier der Mensch ein? Er meint, dass es da jemanden gäbe, der entscheiden könnte, was gut für ihn ist. Doch in Wirklichkeit geht das nicht, weil nun einmal jedes Wesen ein einzelnes Wesen ist. Jeder Mensch ist absolut individuell. Das wissen wir. Doch, bemerkenswerter Weise wird dies gerade total ignoriert. Alle Menschen müssen Masken tragen. Alle Menschen müssen Abstand halten. Alle Menschen dürfen sich nicht mehr zu Hunderten versammeln. Allen Menschen wird die Entscheidung für eigenen Handlungen im wahrsten Sinne des Wortes aus der Hand genommen. Was geschieht hier mit dem Vertrauen in seine eigene Nähe? Was geschieht hier mit dem Vertrauen zu dem mit mir seienden Menschen?

Jedes Handeln wird so zu einer Distanz, nicht nur zu einer Distanz zu dem mit mir seienden Menschen, sondern auch zu einer Distanz zu dem eigenen selbst Mensch-Sein. Das Vertrauen in die eigene verantwortliche Handlungsfähigkeit geht verloren. Es entsteht der Boden für eine von außen bestimmte Welt, die den Menschen sagt, was er zu tun und zu lassen hat.

Die Distanz wird so zu einer alltäglichen Welt definiert, indem digitale Welten die Realität immer mehr ersetzen. Die digitale Welt als Lösung sämtlicher Probleme öffnet einen Raum, der sich von der wirklichen Realität so weit entfernt – distanziert, dass die Nähe verloren geht. Die Nähe zu sich selbst, zum Nächsten, zum Nachbarn, zum Kollegen, zu dem mit mir seienden Menschen. Distanz wird ein Normalbild, wie das Computerbild, das Fernsehbild, das Handybild. Immer alles schön aus der Distanz.

Es bedarf keiner anderen Nähe mehr. Die distanzierte Nähe ersetzt alles. Was passiert hier? Bei genauem Hinsehen, verliert sich die menschliche Menschheit, zu der die Nähe gehört wie die Luft zum Atmen. Kinder ohne Nähe, Kinder ohne Austausch, so lehrt es die Pädagogik seit 100 Jahren, können nicht zu selbstständig denkenden Individuen werden. Alte Menschen ohne Nähe verlieren ihre Lebensenergie doppelt so schnell. Die Nähe zwischen Paaren verliert ohne Berührung ihre Gemeinsamkeit. Die Affenart der Bonobo macht uns vor, wie jegliche Konflikte allein durch Berührung gelöst werden. Doch setzt die Menschheit wie jetzt auf Distanz, setzt sie die Menschheit wirklich aufs Spiel, denn der Mensch ist ein soziales Wesen, dass ohne den Anderen nicht überleben kann! Der Mensch macht sich zu einem lenkbaren Wesen, abhängig von einer Zahlenwelt, die auf Wahrscheinlichkeiten beruht, aber nicht auf Wirklichkeit. Zu empfehlen sei hier Anton Zeilingers Buch „Einsteins Spuk“.

Wird die Angst vor etwas genährt, dass zwar ungewohnt ist, so entsteht ein Kreislauf, der kein Zurück mehr kennt. Angst – Distanz – neue Angst – mehr Distanz – erneute Angst – ewige Trennung der Menschheit – die digitale Welt steht auf. Die wirkliche Welt, das wirkliche Tun, die Echtheit und Authentizität des kleinen Wortes „Schimpfen“ in seiner Direktheit fällt in eine Null-Eins-Folge, verliert sich darin, verschwindet und die distanzierte Welt trägt einen Sieg über die Nähe davon.

Daher beobachtet eure Welt. Schaut euch um. Seht euch die Nähe an. Schaut euch die Distanz an. Was macht weniger Leiden? Was macht mehr Freude? Wie drückt sich so etwas wie Zuneigung, Mitgefühl und Liebe aus?

Alle wirklich wirksam gemeinsam!

In der Praxis der Zazen-Meditation ist es möglich jederzeit die Nähe und Distanz zu erforschen. Die Leberzelle ist weit weg während der Schmerz im Rücken sehr nah ist. Ist mir das Einatmen oder das Ausatmen näher? Wie sitze ich überhaupt? Sitze ich mir nah oder bin ich in Distanz zu mir anwesend? All diese wunderbaren Erfahrungen können wir dann wieder mit in unsere Welt nehmen und sie dadurch gestalten. Ich sitze für eine Welt der Mitmenschlichkeit, denn ich weiß, dass nur mit den anderen Menschen mein Leben möglich ist.

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