Vor kurzem schickte mir eine Freundin eine wunderbare Videoaufnahme von dem Bibeltext „Das hohe Lied der Liebe“. Es ist ein Text, den Paulus an seine Gemeinde in Korinth schrieb.
Hier ein Auszug. Das Hohelied der Liebe, (1 Korintherbrief 13,1-13):
Wenn ich in den Sprachen der Menschen und Engel redete, hätte aber die Liebe nicht, wäre ich ein dröhnendes Erz oder eine lärmende Pauke. Und wenn ich prophetisch reden könnte und alle Geheimnisse wüßte und alle Erkenntnis hätte; wenn ich alle Glaubenskraft besäße und Berge damit versetzen könnte, hätte aber die Liebe nicht, wäre ich nichts.Und wenn ich meine ganze Habe verschenkte, und wenn ich meinen Leib dem Feuer übergäbe, hätte aber die Liebe nicht, nützte es mir nichts…. Sie freut sich nicht über das Unrecht, sondern freut sich an der Wahrheit. Sie erträgt alles, glaubt alles, hofft alles, hält allem stand. Die Liebe hört niemals auf. … Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse, dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich unvollkommen, dann aber werde ich durch und durch erkennen, so wie ich auch durch und durch erkannt worden bin. Für jetzt bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; doch am größten unter ihnen ist die Liebe. (Aus: DIE BIBEL. Altes und Neues Testament. EinheitsübersetzungKatholische Bibelanstalt GmbH, Stuttgart, 1980)
Ganz deutlich wird hier von Paulus gesagt, dass selbst die besten Erkenntnisse nichts taugen, wenn da nicht so etwas wie die Liebe ist. Jeder von uns hat ein anderes Verständnis davon. Doch eines ist allen Auffassungen gemeinsam. Es geht um die Akzeptanz des Nächsten, das Mitfühlen mit ihm, das ihm Nahe-Sein zu jeder Zeit und in jeder Lage. Liebe fragt nicht nach einem Warum oder sucht in einer Angst nach Entschuldigungen. Wahre Liebe ist wie ein Spiegel, der die wirkliche Wahrheit zeigt. Dieser Spiegel der Liebe öffnet Blickwinkel auf ein voll-kommenes Sein und nicht nur auf Stückwerk.
Schauen wir uns unser derzeitiges Sein an, stellt sich die Frage, welches Stückwerk hier gebaut wird.
Ein alter Mensch stirbt allein ohne Zuwendung. Ein kranker Mensch stirbt allein.
Vor einigen Jahren las ich einen wunderbaren Bericht in der Zeitschrift lettre international über Tschernobyl. Paul Virilio und Swetlana Alexijewitsch schreiben in dem Artikel: RADIOAKTIVES FEUER, warum die Erfahrung von Tschernobyl unser Weltbild in Frage stellt und was Liebe bewirken kann. Sie beschreiben, dass eine Frau zu ihrem strahlenverseuchten Mann ins Krankenhaus möchte, aber nicht eingelassen wird. Sie gibt jedoch nicht auf. Sie klettert über Balkone und Brüstungen bis sie im Krankenhaus ist und am Bett ihres Mannes sitzt. Jetzt kann sie keiner mehr wegschicken, denn jetzt ist sie selbst strahlengefährdet. Dieser Mann, der zu den ersten Einsatztrupps gehört hatte, der älter war als viele andere helfenden Hände, starb viele Tage später als andere gleichfalls strahlenverseuchte junge Menschen.
Warum wohl? Mich hat es beeindruckt, dass diese Frau aus Liebe zu ihrem Mann alles unternahm, um zu ihm zu gelangen. Ihn in einer so schweren Stunde allein zu lassen, kam für sie nicht in Frage. Ist das wahre Liebe? Ist das ehrliches Mitgefühl? Ist das menschliches Handeln?
In meinem Buch „Was ist „menschlich sein“, habe ich mir damals solche Fragen gestellt. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass den Menschen so etwas auszeichnet wie eine „pathische Ratio“.
Was ist das? Die pathische Ratio des Menschen trägt ein Lebenswissen in sich, das den anderen Menschen als eine Ungetrenntheit betrachtet, weil dieser andere Mensch ist mit mir Mensch. Genau dieses Mit-mir-Menschsein macht das Wir aus.
Wenn derzeit im Fernsehen oder Radio Aufforderungen stehen: Wir bleiben zuhause. Wir gehen für euch arbeiten. Usw. Was für ein Wir ist das, wenn beim Einkaufen eine Mitarbeiterin in einem Geschäft vor Angst in die Abwehrhaltung geht? Was für ein Wir ist das, wenn nur an finanzielle Mittel gedachte wird? Was ist das für ein Wir, wenn der andere Mensch nicht mehr als Mensch, als der mir nächste Mitmensch gesehen wird, sondern nur noch als Möglichkeit einer Krankheit? Was ist ein echtes Wir?
Lebenswissen lehrt ein Wir, dass jeden miteinbezieht und niemanden allein sterben lässt, niemanden allein gebären lässt, niemanden allein lässt in Krankheit und Gesundheit. Ein echtes Wir, ein echtes menschliches Lebenswissen fragt nur nach einem: Ist mein Tun ein ehrliches echtes menschliches Tun? Nur dieses hilft. Nur dieses ist Kraft. Nur dieses ist gesund.
Unsere Welt steht gerade Kopf, weil genau das Umgedrehte soll echt sein. Die Isolation. Die Vereinsamung. Die kranke Gesundheit. Ein allein gelassenes Wir.
In diesem Sinne bedeutet Aufstehen für demokratische Grundrechte wie Einheit, Freiheit und Recht, auch ein Aufstehen für Menschlichkeit und Liebe.
Ein Wir entsteht nur dann, wenn jedes Teil in einem Ganzen dieses Wir lebt und lebendig hält. Ein vereinzeltes Wesen Mensch kann kein Wir lebendig halten.
Kein Computer dieser Welt kann einen anderen Menschen in seiner Einmaligkeit, Vielfalt und Echtheit ersetzen. Wir sollten in dem Nächsten nicht den Feind sehen, sondern den Mit-mir-Mensch-Seienden. Dabei ist es egal, ob gesund oder krank.
Eine 15- Jährige sagte zu Beginn dieser Pandemie, dass sie sich mit ihren Freundinnen an die Hand gefasst habe und gemeinsam gesagt haben: Hand in Hand gemeinsam gegen Corona. Solltest du mich infizieren und ich sterbe, so werde ich dir nicht böse sein.
Dies ist Menschlichkeit!