Trauer und Abschied

Absolute Präsenz und beständige Abwesenheit

Wie ihr alle wisst, bin ich eine Zen-Frau. Sicherlich noch keine formelle, die ich wahrscheinlich gar nicht mehr werden kann, weil ich so lange gar nicht leben kann und auch die finanziellen Mittel dafür nicht habe, aber ich bin eine wirklich gute informelle Zen-Frau, die mit ihren eigenen Erfahrungen die Praxis des Zazen mit Freude weiterreicht.

In diesem Zusammenhang begann ich vor mehr als einem Jahr Frauenbücher zu studieren, die von Zen-Frauen geschrieben wurden oder über Zen-Frauen berichten. Eines dieser Bücher ist „Das verborgene Licht“ von Florence Caplow und Susan Moon. Es ist ein dickes Buch voller Geschichten und Kommentaren. Zen-Geschichten, in denen Frauen eine Rolle spielen. Zen-Geschichten, die von Zen-Frauen kommentiert werden.

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Biene Maja

In den letzten Tagen des alten Jahres und den ersten Tagen des neuen Jahres war die Familie meines Sohnes zu Besuch. Mein Enkelkind Linus, fast drei Jahre alt, hört gerne Geschichten.

Ich las ihm aus Biene Maja vor. Kassandra, die Lehrerin der Biene Maja, setzte Maja in ihrer ersten Ausbildungseinheit mit folgendem auseinander. „Die erste Regel, die eine junge Biene sich merken muss, ist, dass jede in allem, was sie denkt und tut, den anderen gleichen und an das Wohlergehen aller denken muss. Es ist bei der Staatsordnung, die wir seit undenkbar langer Zeit als die richtige erkannt haben und die sich aufs Beste bewährt hat, die einzige Grundlage für das Wohl des Staates.“

Kassandra sagt, dass wir allen anderen gleichen und dies eine gute Grundlage für den Staat sei. Wie wenig denken wir derzeit an all die anderen?

Was ist mit Obdachlosigkeit? „Ein Mann mit grauem Bart. Seit vier Jahren lebt er auf der Straße. Schlimme Zeiten habe er erlebt, „aber das, was jetzt ist, ist ganz schlimm.““

Die Zahl der Hungernden auf der Welt steigt.

37 Länder werden bis 2030 an der Herausforderung scheitern, ein niedriges Hungerniveau zu erreichen, prognostiziert die Welthungerhilfe. Denn während der prozentuale Anteil derer, die ihren täglichen Kalorienbedarf nicht decken können, stagniert, steigt ihre absolute Zahl an. So blieb der Anteil der unterernährten Menschen an der wachsenden Weltbevölkerung seit 2018 konstant bei 8,9 Prozent. Gleichzeitig stieg die absolute Zahl der Hungerleidenden seit 2018 um zehn Millionen auf nunmehr 690 Millionen Menschen an. Vor fünf Jahren waren es noch rund 630 Millionen Menschen gewesen.“

Weltweit hungern knapp 821 Millionen Menschen. Von diesen Hungernden sind ein großer Teil Kinder. Vielleicht hätte eines der verhungernden Kind die Lösung für die Wasserprobleme der Weltbevölkerung!

„Am 17. September veröffentlichte „Save the Children“ eine Untersuchung mit dem Titel „150 Millionen Kinder durch Covid-19 zusätzlich in Armut gestürzt“. Armut wird dabei definiert als multidimensionale Armut, das heißt, wenn ein Kind keinen Zugang zu Erziehung, Gesundheit, Wohnung, Ernährung, sanitäre Anlagen oder Wasser hat. Unter dieser Art multidimensionaler Armut leiden demnach momentan rund 1,2 Milliarden Kinder in Schwellen- und Entwicklungsländern.“

Die deutschen Wirtschaftsnachrichten sagen mehr als klar und deutlich, zugänglich für jeden im Netz:

„Danach könnten aufgrund der sozialen und ökonomischen Folgen der Pandemie zum Ende des Jahres 2020 etwa 12.000 Menschen pro Tag sterben – das wären schätzungsweise 2.000 mehr als an Corona selbst (im April 2020 lag der Spitzenwert der mit oder an Corona Gestorbenen bei etwas über 10.000). „Hunger dürfte uns schneller töten als das Coronavirus“, heißt es wörtlich in der Studie.“

Wonach hungert die westliche Welt?

Wie sieht es in all diesen Fällen mit unserer Gleichheit aus? Wo ziehen wir privat unsere Grenzen hoch? Womit beruhigen wir unser Gewissen? Was sehen wir überhaupt? Was nehmen wir für wahr? Wie klein oder groß ist unser Horizont? Wo beginnt er? Wo hört er auf?

In all den entstandenen Entscheidungen des letzten Jahres und den noch anstehenden Entscheidungen des neuen Jahres gilt es nicht die Fragen im Rahmen einer bestimmten Nationalität zu beantworten, sondern es gilt eine globale Antwort aufzutun.

Diese globale Antwort ist nicht mit Impfen ja oder nein zu beantworten, nicht mit Distanz und Masken, sondern mit ehrlicher Auseinandersetzung der weltlichen Zustände.

Diese globale Antwort ist nicht mit Impfen ja oder nein zu beantworten, nicht mit Distanz und Masken, sondern mit ehrlicher Auseinandersetzung der weltlichen Zustände.

Warum Fleischessen die Umwelt zerstört
Für Fleisch stirbt der Regenwald.

Der große Zenmeister Richard Baker Roshi schreibt in seinem Neujahrsbrief an die Mitglieder der zen-buddhistischen Gemeinde:

„Während ich diesen Brief schreibe, werden die ersten Covid-19 Impfungen verabreicht. Gegen die bereits eingetretene globale Erwärmung und gegen die längst laufenden globalen Wandlungsprozesse des Anthropozäns wird es keine Impfmöglichkeit geben. Der einzige Schutz, den wir hier als Individuum haben, sind Resilienz, Mut und Weisheit. Auf gesellschaftlicher Ebene werden uns nur weitsichtige Staatsräson, wissenschaftliche Durchbrüche und globale Kooperation schützen. Unsere einzige Hoffnung auf Heilung wird in einer ausgesprochen klugen, weisen und zukunfts-mitfühlenden Nutzung unserer Potenziale liegen.“

Resilienz, Mut und Weisheit erlangt der individuelle Mensch, wenn er sich auf den Weg macht. Auf den Weg machen, bedeutet, Distanzen zu überwinden, Masken niederzureißen und wahrlich jeden Menschen als des Gleichen zu betrachten. Und nicht nur Menschen, sondern überhaupt Lebendiges. Gibt es wirklich etwas, was nicht lebendig ist?

Möchte einer mit dem hungernden Kind in Bangladesch tauschen, von denen derzeit jedes vierte Kind verstirbt?

Möchte einer mit dem Aids-Kranken in  Botswana tauschen, die jetzt noch ärmer sind?

Möchten einer von uns mit dem Obdachlosen tauschen, der nicht einmal mehr weiß, wo er sich waschen kann?

Mahatma Gandhi sagt: „Hunger ist die schlimmste Form der Gewalt.“ Ist im Angesicht dieser Wahrheiten nicht wirklich Mut und Weisheit gefragt? Die Weisheit loszugehen und zu tun? Die Weisheit, die Masken fallen zu lassen und Distanzen aufzuheben, um nicht noch mehr Menschen das Leben zu nehmen, wo wir doch angeblich Menschenleben retten wollen und dies dem Wohle des Volkes dienen soll?

Der bayrische Ministerpräsident Markus Söder sagt am 17.11.2020 im Interview mit Christian Deutschländer und Mike Schier für den Merkur: „Ich nehme jedes einzelne Argument auf. Ich bitte aber alle, das große Ganze zu sehen und nicht nur die Betroffenheit des Einzelnen. Wir haben stark wachsende Todeszahlen in Deutschland. Das einfach achselzuckend in Kauf zu nehmen, obwohl man Leben retten könnte, wäre eine ethische Kapitulation. Ich kann das mit meinem Gewissen nicht verantworten.“

Hört die Ganzheit schon an der bayrischen Grenze auf oder an den Deutschen? Sind die Todeszahlen in Deutschland wichtiger als Todeszahlen von verhungernden Menschen? Achselzucken, obwohl man Leben retten kann, eine ethische Kapitulation? Sie ist bereits eingetreten. In dem Augenblick, indem die westliche so zivilisierte Gesellschaft sich auf ihren Profit verlegte und die Menschheit aus dem Auge verlor, indem Moment begann ein Virus zu wachsen.

Globale Verantwortung ist Verantwortung. Es ist Weisheit. Und zeigten die Menschen den Mut, zu ihren Taten (Profit, Gewinn, Macht, Konsum) zu stehen, könnten sie sie verändern. Wenn wir uns nicht bei jedem Tun, bei jeder Produktion fragen, was machen wir mit dem Material, wo kommt es her, wie gesund ist es, wer verdient oder stirbt daran, dann ist das eine ethische Entscheidung mit Weitblick.

Wir sind Menschen. Menschen sind Sterbliche. Sterbliche sind jeden Alters. Jedes Alter ist lebendig. Lebendigkeit ist pflanzlich, tierisch und und und, auch virell. So vieles kennen wir nicht. Lebendigkeit nährt sich von Totem. Totes nährt sich von Lebenden. Beides ist einander gleich, nur ein winzig kleiner Moment entscheidet über die Form das Daseins. Mit welchem Maßstab wollen wir verantwortlich ethisch entscheiden, dass unsere Menschenleben in Deutschland mehr wert sind, als die Hungernden Menschen in Bangladesch oder Afrika, Südamerika und auch in Deutschland, wo laut Armutsbericht gerade durch das Virus die sozial schwachen Familien mit Kindern besonders betroffen sind. Auch mein Enkel Linus ist davon betroffen. Die Marburger Uni-Klinik mit angeschlossenem Autismus-Zentrum sagte gerade zu mir am Telefon, dass sie verlangen, dass auch das nicht einmal dreijährige Kind eine Maske tragen müsse. Auf die Frage, wie ein Kind mit Autismus eine Maske aufgesetzt werden soll, kam die Antwort, das ist Gesetz. Ist das ethische Verantwortung? Was für Folgen hat das für das Kind?

Nehmen wir unsere Verantwortung ernst wie die Lehrerin Kassandra bei Biene Maja, indem wir uns klarmachen, wir gleichen den Anderen, auch einem Virus. Resilienz erreichen wir durch Frischluft, Auseinandersetzung mit Keimen, mit Meditation und Respektanz der Ganzheit allen Lebens. Mut ist sich einzugestehen, dass es ein Ende des vorgestellten Lebens gibt. Weisheit ist das Tun des Richtigen im Sinne des Ganzen.

In diesem Sinne mögen wir alle mutig genug sein, die Weisheit zu leben.

Weihnachten 2020 „Die vertikale Welt trifft die horizontale Welt“

In dem wunderbaren Buch „Der Weg der neun Welten“ von Eric Julien finde ich diesen Satz. Ich finde, dass dieser Satz so deutlich wiedergibt, was uns dieses Jahr gezeigt hat.

Die vertikale Welt verbindet Himmel und Erde, Leben und Tod, Geburt und Sterben, Nähe und Distanz, Zuwendung und Abwenden. Die horizontale Welt kennt lebendiges Treiben, Wachstum, Fortschritt, Vorwärts-Treiben, Stress, Zukunft, Ausgerichtet-Sein.

Die horizontale Welt hat vergessen, dass ihre Welt nur existiert, weil es Leben und Tod gibt, weil es Geburt und Sterben gibt. Die Angst, die Bedrohung durch einen Tod, der in Form eines Virus auftaucht, zeigt plötzlich, dass es da noch eine Welt gibt – diese merkwürde vertikale Welt, die Himmel und Erde verbindet, die Leben und Tod zu einer Einheit werden lässt.

Weihnachten ist die Geburt eines Kindes.

Jede Geburt ist ein Zeichen der absoluten Nähe der vertikalen und horizontalen Welt. Schauen wir hin, sehen wie deutlich, dass jedes Geboren-Sein ein Sterben-Sein beinhaltet. In unserer menschlichen Vorstellung scheint ein Raum dazwischen. Doch, wo ist die Grenze? Wer bestimmt sie? Wie sollte sie aussehen?

Die Menschen haben die Verbindung zu einer Einheit von Geboren-Sein und Sterben-Sein verloren. Es ist für sie fremd geworden. Wir haben in den letzten Jahren diese Perspektive wie viele andere „outgesourct“.  Dieses Wort sagt mehr als es scheint. Ja, wir haben nicht nur wirtschaftliche Bereich ausgelagert, sondern auch gesellschaftliche Bereiche. Wir haben diese ausgelagerten Bereiche auf Inseln verfrachtet. Die Insel der Kinder das sind Kindertagesstätten, Kindergärten, Schulen, Tageseinrichtungen, Vereine. Die Insel der Alten sind Seniorenwohnanlagen. Die Insel der Behinderten sind beschützende Werkstätten und betreutes Wohnen. Die Insel der Sterbenden sind Hospize und Palliativstationen. Wir lagern unser Leben immer weiter aus. Wir halten nicht mehr zusammen, sondern wir trennen uns, lösen Verbindungen auf. Eric Julien beschreibt dies am Beispiel der Kogi-Indianer. Sie leben mit der Natur in der Sierra Nevada de Santa Marta in Kolumbien. Sie leben die Verbundenheit von Geburt und Sterben. Sie haben die Verbindung von Himmel und Erde nicht gelöst, sondern weisen in ihrem Tun tagtäglich darauf hin, dass diese Verbindung der horizontalen und der vertikalen Welt eine gemeinsame Welt ist. Diese beiden Welten gehören zusammen wie die zwei Seiten einer Medaille. Sie sind die beiden Welten, die auch tagtäglich in uns selbst, in jedem Menschen sprechen. Es ist der Geist und der Körper. Es ist der Körper und der Geist. Wie sollten wir sie trennen können? Was hindert uns ihre absolute Nähe zu begreifen?

Dieses Jahr hat uns deutlichst gezeigt, dass eine Trennung nicht fruchtet. Die Anzahl der Infizierten steigt. Warum steigt sie? Was passiert hier eigentlich wirklich? Ist es nicht so, dass wir einem gesunden Körper hinterherlaufen, obwohl ein gesunder Körper nur genau hier an dem Ort sein kann, wo ein Mensch ist? Ist es nicht so, dass jede Krankheit nicht dort draußen entsteht, sondern genau hier an diesem Ort, an dem wir als Mensch gerade stehen. Ja, es existiert ein unbekanntes Virus, aber haben wir uns schon einmal die Frage gestellt: Was mag das Virus? Was mag es nicht? Was hindert einen Baum am Virus zu erkranken? Oder hat er ihn längst und kennt seinen Wirkungsgrad und damit das Heilmittel des Eigenen?

Im Zeit-Magazin vom 10.12.2020 wird über die spanische Grippe vor genau 100 Jahren berichtet.

Menschen sterben. Menschen leben. Menschen sind traurig. Menschen sind glücklich. Menschen sind lebendige Wesen wie ein Baum, ein Tier, ein Stein, eine Pflanze oder ein Virus. Jedes Leben ist wertvoll. Jedes Leben zeigt uns etwas!

Jörg Burger fasst die wenigen historischen Belege in Zitaten und Gedanken zusammen. Auffallend in den Zeitzeugen-Berichten, ist die „relative Gelassenheit, mit der all diese Erinnerungen von der Spanischen Grippe berichtet wird“. Was bedeutet dies? Haben wir in den letzten Jahren durch die Verinselung und Outsourcing verlernt, uns mit der Allgegenwärtigkeit des Todes auseinanderzusetzen? Damals war gerade der erste Weltkrieg vorbei. Es gab keinen Haushalt, der nicht Tote zu betrauern hatte. Von den geborenen Kindern starben um 1900 noch jedes fünfte Kind. (Quelle: https://www.dhm.de/archiv/ausstellungen/lebensstationen/1_18.htm)

1930 starben von 500 Frauen 310 Frauen bei der Entbindung. Den Menschen waren Geburt und Sterben vertraut. Es gehörte zum Alltag. Es gehörte zum lebendigen menschlichen Sein.

Es gab kein Outsourcing. Erkrankte an der spanischen Grippe wurden in der Hauptsache daheim gepflegt. Die medizinische Versorgung bestand aus Lindenblütentee und Schwitzpackungen. Ein Arzt gesteht in den historischen Aussagen, dass er das einjährige schwer erkrankte Kind und dessen Vater, der vom Fieber abgezehrt nur noch aus Haut und Knochen bestand, aufgegeben hatte. Er nahm der Frau, die nicht erkrankte, jedoch die Hoffnung nicht. „Beide Kranken genasen“.

Hier zeigt sich noch ein anderer Aspekt. Vor 100 Jahren wurde nicht selbstverständlich davon ausgegangen, dass Kranke abgesondert werden. Es war selbstverständlich, dass die Pflege eines Kranken daheim stattfand.

Mich entzündet immer wieder die gleiche Frage: Wo ist unsere Menschlichkeit? Was macht unsere Menschlichkeit aus? Haben wir nicht nur wirtschaftliche und gesellschaftliche Dinge outgesourct, sondern auch das Menschliche? Wo ist es nun? Wo können wir es noch sehen?

Geld macht Menschen nicht glücklich, sagt der Volksmund.

Viktor Frankl stellt in seiner Logotherapie klar heraus, dass der Mensch einen Sinn braucht in seinem Leben. Sinn ensteht durch Tun. Wenn wir den Menschen ihr Tun nehmen, in Form ihres Arbeitsplatzes, dann geht der Sinn verloren. Nicht nur der abstrakte Sinn, sondern tatsächlich das Sinnen der Sinne reduziert sich. Sinnen und Nachdenken stehen im engen Kontakt. Die Pädagogik weiß um die Wichtigkeit von Bewegung für die Gehirnentwicklung. Bewegung bedeutet Sinnlichkeit. Sinnlichkeit bedeutet neuronale Netzwerke bauen. Neuronale Netzwerke sind Netzwerke, die wie ein Pilzgeflecht in der Natur Verbindungen herstellen. Verlieren wir unser Tun verlieren wir unsere Natur, die menschlich ist. Was hindert uns diese verbindenden Netzwerke der Sinne zu sehen? Warum glauben wir, dass nur noch das Netzwerk aus 0 und 1 einer Maschine, ein bestehendes Netz ist? Was ist mit den Netzen von 00001 und 1234556 und den abertausend anderen Arten von Netzen?

Die Natur hat in diesem Jahr mehr als deutlich gezeigt: Hier bin ich. Schaut her. Das ist Natur. Natur ist geboren werden und sterben. Natur ist Wandel und Veränderung, Augenblick für Augenblick. Wir können nichts festhalten. Nicht einmal Inzidenz-oder Fallzahlen. Alles unterliegt einem Wandel. Warum vertrauen wir uns nicht mehr? Warum vertrauen wir einer Technik, die Zahlen zählt, aber nicht die Menschlichkeit? Warum fordern wir digitale Welten, obwohl die direkte menschliche Welt greifbar vor unserer aller Nasen liegt? Warum wollen wir nicht sterben, obwohl wir alle wissen, dass dies unser aller Schicksal ist? Warum meinen wir die vertikale Welt missachten zu können, indem wir die horizontale Welt vertechnisieren und als die eine wirkliche Welt vorstellen?

Ich bitte Sie inständig, sich für die menschliche Nähe zu entscheiden. Ich bitte Sie inständig, sich für das menschlich sinnliche Tun zu entscheiden. Ich bitte Sie inständig, sich der Verbindung von Leben und Sterben klar zu sein.

Der junge Wissenschaftler Merlin Sheldrake

Verwobenes Leben | Merlin Sheldrake | HÖBU.de

schreibt in seinem wunderbaren Buch „Verwobenes Leben“ über die Zusammenhänge von Pilzen und Lebensfähigkeit von Pflanzen, Tieren und Menschen. Er zitiert die Anthropologinnen Natasha Myers und Carla Hustak. „Der Begriff „Evolution“ [fängt] …das Leben … nicht angemessen ein. … Für sie beschreibt der Begriff der Involution [einbeziehen] viel besser das verwobene Schieben und Ziehen von ˃ Organismen, die ständig neue Wege erfinden, um mit-und nebeneinander zu leben˂“.

Ist es nicht genau das, was wir gerade verweigern? Weigern wir nicht, anzuerkennen, dass eine neue Lebensform Teil eines Mit-uns-Sein lebt?

Sheldrake sagt mit diesen beiden Anthropologinnen: „Indem die Beteiligten sich zusammentun, überwinden sie ihre früheren Grenzen.“

Mit diesem Gedanken bedanke ich mich für das alte Jahr, dass mir deutlich menschliche Grenzen gezeigt hat, wo keine sein sollten. Mit diesem Gedanken freue ich mich auf das neue Jahr, indem sich die Beteiligten Virus und Mensch, Natur und Mensch, Ökonomie und Ökologie, Geburt und Sterben, vertikale und horizontale Welt zusammentun, um frühere Grenzen zu überwinden, um jeden Augenblick Geburt zu leben.

Lasst uns gemeinsam und jeder für sich, die eigenen Grenzen überwinden und im Zusammen-Sein die Stärken neu entdecken, die das menschliche Mensch-Sein ausmachen.

Liebes Virus

In den letzten Monaten hast du uns vieles gelehrt. Du hast uns gelehrt:

Masken zu tragen und vom Mitmenschen Abstand zu halten. Du ließest zu, dass alte Menschen alleine sterben, dass Kinder keine anderen Kinder zum spielen haben, dass Mütter in Verzweiflung gerieten, weil sie nicht wissen, was sie mit ihren Kindern machen sollen, wenn sie arbeiten gehen müssen. Du hast uns Aufgaben gegeben, die wir nicht geahnt hätten lösen zu können, aber wir konnten. Du bist der Verursacher aller dieser Maßnahmen, ohne dass du dich je dazu äußern könntest, weil deine Stimme ist unbekannt wie ein Fremdsprache. Bei Fremdsprachen sind wir neugierig, sie zu erlernen, aber dich will keiner haben. Seltsam.

Eigentlich bist du ja auch gar nicht der Verursacher dieser Lehren, sondern diese Lehren lehrt uns eine Macht, die Staatsmacht heißt.

In Wirklichkeit lehrst du uns etwas ganz Anderes. Du legst den Finger in die Wunden der Gesellschaft. Alte Menschen wohnen in Seniorenanlagen, so heißt es heute und nicht mehr Altenheimen. Fragt sich unsere Gesellschaft noch, ob das die richtige Wahl ist? Ist mit Geld und Pflegestufen das Alt-Werden des Menschen zu reglementieren, ohne dass die Menschlichkeit verliert?

Du zeigst uns, dass in Massenunterkünften, egal ob Tier oder Mensch, eine Lebenswelt existiert, die nicht lebenswert ist, weil der Wert des Lebens nicht gesehen wird, sondern nur der Geldwert.

Du zeigst uns die wachsende Zwei-Klassen-Gesellschaft, die sich immer mehr verbreitet. Es ist ein Unterschied in einem Einfamilienhaus mit Kindern zu leben oder in einer 50 qm großen Mietwohnung mit vier Personen. Es gibt noch gar kein Recht auf Arbeit im Grundgesetz, aber nun gibt es Forderungen nach einem Gesetz für Homeoffice. Welche Gesellschaft spiegelt sich hier?

Einführung in das Social Engineering + Teil-1 ...

Du zeigst uns, dass wir tatsächlich aus lauter Angst vor dem eigenen Tod und dem Tod anderer, wir wirklich lieber auf jede menschliche Nähe verzichten. Dass unsere Angst vor dem Tod so groß ist, dass wir uns gegenseitig voneinander entfernen und Medien und Politik die Entscheidungen überlassen.

Du zeigst uns, dass das globale Zusammenspiel keine Grenzen kennt.

Du gabst uns zu verstehen, dass wir nur hinschauen müssen, um zu erkennen, was für ein feines Netzwerk von Natur und Mensch besteht. Während sich die Menschen voneinander entfernen, werden Urwälder niedergemacht, die vielleicht gerade zu deinem Entstehen beigetragen haben oder dein Entstehen verhindern könnten. Die Grenzenlosigkeit des Zusammenspiels ist immer noch eine nicht akzeptierte Tatsache. Statt allein jeder für sich, wäre hier der Weg eines weltweiten menschlichen Tuns offen, dass wirklich Schritte in eine menschliche und naturfördernde gemeinsame Welt schafft. Fragen nach Energie, Ernährung, Wasser sind die Kernaufgaben der ganzen Menschheit. Die Grenzenlosigkeit des Zusammenspiels könnte jetzt geübt werden.

Nur ein landwirtschaftliches Feld?

Aber irgendwie liebes Virus sind die Menschen seltsame Wesen, statt die unverzichtbare menschliche Nähe, die überhaupt erlaubt, dass der Mensch sich fortpflanzen kann, dass er einen neuen Menschen aufziehen kann, dass er in Krankheit gepflegt werden kann, dass er Liebe und Freude teilen kann, erlaubt sich der Mensch auf all sein Menschlich-Sein zu verzichten, weil er vor dir und dem Deinen Angst hat.

Im großen Spiel des Lebens ist das wahrhaft ein deutliches Zeichen menschlicher Unreife, denn sowohl du liebes Virus als auch wir, also jeder Mensch, jede Pflanze, jedes Tier, einfach jedes lebendige Wesen stirbt.

Sollten wir in der Geschichte der Menschheit nicht mehr gelernt haben, als uns an Zahlen auszurichten, die auf Hypothesen beruhen?

Sollten wir Menschen nicht mehr gelernt haben, als dass die Isolation des Menschen, in diesem besonderen Fall sogar von Mensch zu Mensch, denn jeder könnte ja infiziert sein, uns mehr schadet als nützt?

Sollten die meisten Menschen nicht wissen, dass sie gesund sind, weil da gibt es ja so etwas wie ein Gefühl, eine innere Stimme? Aber die bringen wir schnell zum schweigen, denn die politische Macht und das mediale Gefüge, das uns eine Art Feindbild schenkt, die wissen, was zu tun ist?

Sollten wir nicht alle Menschen umarmen, den Kranken, den Sterbenden, den Gesunden, den Hoffenden, den Liebenden, den Hassenden, lehren uns das nicht die Religionen der Welt?

Innige Umarmung bei Freude, bei Trauer, bei Liebe, bei Hass?

Du, liebes Virus zeigst uns mehr als deutlich, wie unreif und wenig weise wir so verstandesmäßige Menschen sind. Unser Verstand funktioniert nur so lange nicht der Tod droht. Ist dieser in Sicht, dann greifen wir zu jedem Mittel, selbst wenn dies heißt, dein krankes Kind darf nur noch die Mutter oder der Vater besuchen, den Sterbenden darf nicht die ganze Familie besuchen, die Alten dürfen keinen Besuch im Heim empfangen, Intensivstationen sind wichtiger als menschlicher Kontakt, usw.

Als Philosophin stellt sich mir hier einfach die Frage, lieber Virus, brauchst du das alles wirklich oder willst du nur in Ruhe dich auch in diesem großen Kreislauf des Lebens zeigen, gesehen werden, so wie wir, um dann in Ruhe sterben zu können wie jeder Mensch auf der Welt.

Lass uns von dir lernen, wie du lebst, was du uns zeigen möchtest. Gib uns die Möglichkeit der Welt ein Gesicht zu geben, dass die Menschlichkeit als weises Fundament nicht vergisst, um dir und uns allen ein gutes Leben zu ermöglichen.

Im Buddhismus spricht man von der Ungetrenntheit der Dinge. Was sollte mich von dir trennen, Virus? Du bist schon längst da. Du lebst. Du stirbst. Das normale Werden und Vergehen.

Warum sollten wir die Menschheit aufs Spiel setzen, die du doch nur unterstützen würdest, wenn wir dich lassen würden. Du kennst die Pflege, die Zuwendung, das Versorgen.

Wenn der Mensch dich lieben lernt, lernt er sich selbst kennen wie er jetzt ist, denn du bist hier, wie ein Spiegel unseres Seins.

Du sagst einfach: Schaut, was ihr aus mir macht?

Aber, das bin nicht ich!

Der, den wir füttern

„Ein indianischer Großvater sprach mit seinem Enkel über Gewalt und Grausamkeit auf der Welt und die Gründe für ihre Entstehung. Er sagte, es sei, als würden zwei Wölfe in unserem Herzen miteinander kämpfen. Ein Wolf sei rachsüchtig und wütend, der andere verständnisvoll und freundlich. Als der Enkel den Großvater fragt, welcher Wolf den Kampf in unserem Herzen gewinnen würde, antwortete er: Der, den wir füttern.“ (Pema Chdödrön, Den Sprung wagen)

In letzter Zeit habe ich mir Frauenbücher auf den Tisch geholt. Ihr wisst, dass ich eine Leserin und Schreiberin bin. Ja, und eines dieser Frauenbücher machte mich erneut auf Pema Chödrön aufmerksam, die ich vor vielen Jahren sogar in englisch las. Dieses Buch von Michaela Haas beschreibt bedeutende tibetisch buddhistische Frauen. Da darf Pema Chödrön nicht fehlen. Ich möchte euch zitieren, was ich gefunden und entdeckt habe, weil es in der Zeit, in der wir gerade leben, überaus hilfreich ist.

Lasst euch hineinfallen. Gebt eurem Herzen einen Stoß, wagt den Sprung ins Ungewisse, den Pema Chödrön in einem weiteren ihrer Bücher wie folgt beschreibt: „Ich bringe den vorliegenden Führer (Geh an die Orte, die du fürchtest) für die Schulung des mitfühlenden Kriegers dar. Möge er am Anfang, in der Mitte und am Ende hilfreich sein. Möge er uns helfen, auf jene Orte zuzugehen, die wir fürchten. Möge er uns helfen, wenn Angst unser Leben beengt. Möge er unser Leben bereichern und uns helfen, ohne Bedauern zu sterben.“

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Pema Chödrön: „Eines der Kinder stellte eine Frage über Angst. Trungpa Rinpoche antwortete, dass er einmal ein Kloster mit einem aggressiven Wachhund besucht habe. Gerade als seine Gruppe den Hof betreten hatte, riss sich der rasende Hund von der Kette. Alle erstarrten vor Schock, außer Trungpa Rinpoche. Der begann, so schnell er konnte, zu rennen – direkt auf den Hund zu. Der Hund war so überrumpelt, dass er kehrtmachte und mit eingezogenem Schwanz in die entgegengesetzte Richtung lief.“

„Im Wesentlichen ist die Übung immer dieselbe: Statt unseren Kettenreaktionen der Rache und des Selbsthasses zum Opfer zu fallen, lernen wir allmählich, die emotionale Reaktion aufzufangen und das Skript fallenzulassen. Dann erfahren wir die Körperempfindung voll und ganz. Eine Weise, dies zu tun, ist, sie mit dem Einatmen in unser Herz zu nehmen. Indem wie die Emotion zur Kenntnis nehmen, alle Geschichten, die wir uns selbst dazu erzählen, fallenlassen, und die Energie des Augenblicks fühlen, kultivieren wir Mitgefühl mit uns selbst. … Wir können uns vor Augen halten, dass es Millionen von Menschen gibt, die in diesem Augenblick dasselbe fühlen wie wir.“

„Wir glauben, es ginge darum, die Prüfung zu bestehen und das Problem zu überwinden, aber in Wirklichkeit gibt es gar keine Lösung. Die Dinge kommen zusammen und fallen wieder auseinander. Dann kommen sie wieder zusammen und fallen wieder auseinander. So einfach ist es. Die Heilung stellt sich ein, wenn wir allem Geschehen Raum lassen: Raum für Trauer, Raum für Linderung, Raum für Elend, Raum für Freude.“

„In jedem Augenblick, aber vor allem dann, wenn die Dinge ungemütlich werden, „haben wir die Wahl, unserem Gewohnheitsmuster zu folgen, oder wir können uns entscheiden, nicht wieder die gleichen alten Samen zu säen. Genau in diesem Moment können wir uns gewahr werden, dass wir eine Gelegenheit zum Praktizieren haben, statt uns von unseren Gefühlen beherrschen zu lassen, die uns gerade aufgewühlt haben.“

In diesem Sinne wünsche ich uns allen, dass wir unsere angstbesetzten Gewohnheitsmuster aussteigen, den Menschen wieder uns ganzes Gesicht zeigen, ein wahres Gesicht. In diesem Sinne wünsche ich uns allen, „den Sprung zu wagen“, weil in Wirklichkeit können wir nicht verlieren, weil wir nichts haben. Doch, den Samen, den wir jetzt säen, zeigt seine Blüten oft erst Jahre später. Daher ist es ratsam, sich den Samen anzuschauen, den wir säen.

November 2020

Heute ist der 2. November 2020. Dieses Jahr steht und stand bisher unter einem besonderen Zeichen. Ein Lebewesen, das von uns laut Definition so nicht bezeichnet wird, zeichnet uns. Was ist ein Lebewesen?

Es zeigt uns offen und hautnah, die Verbundenheit aller Wesen miteinander. Total global. Es legt den Finger in die Wunden der Menschheit. Tierhaltung. Tierschlachtung. Ausbeutung von Menschen. Soziales Sterben. Zerstörung ethischer Prinzipien im Angesicht von Alter und Tod. Genau hier weist das Wesen auf Unmenschlichkeit, auf Ausbeutung, auf Machtgier hin.

Es werden Gesetze zum Schutze der Menschen geändert. Es werden Regelungen eingeführt, die dem Schutz der Menschen dienen.

Anklicken und man ist dort!

Genau vor 85 Jahren, 1935, war auch ein besonderes Jahr unter einem besonderen Zeichen. In Deutschland beginnt das NS-Regime seine Macht. Es höhlt den Friedensvertrag von Versailles aus, der genau vor 100 Jahren im November 1920 nach dem ersten Weltkrieg unterzeichnet wurde.

Es wurden Gesetze eingeführt, die eine Minderheit, „zum Schutze des deutschen Volkes“ verfolgen. Diese Minderheit wurde im Folgenden um weitere „Minderheiten“ ergänzt.

Auch diese Zeit ist wie eine Art Lebewesen. Sie legte die Finger in die Wunden der Menschheit. Unmenschlichkeit wurde sichtbar. Machtgier erlaubte sich Übergriffigkeiten.  „Zum Schutze des deutschen Volkes“.

Dies sind Ereignisse, die die Welt prägten. Prägungen, die bis heute unvergessbar sind. Prägungen, die sich über Generationen in den Menschen verankert haben. Ereignisse, die Einzelschicksale zu Massenschicksalen werden ließen.

Wo stehen wir nun? Was tun wir? Was ist richtig? Was ist falsch? Was bedeutet dies für die kommenden Generationen? Was für die Menschheit?

Wie Ihr alle wisst, bin ich Philosophin. Philosophen stellen Fragen. Dies ist ihr Hauptfachgebiet. Sie sehen Fragen, wo andere gar keine sehen, weil doch alles klar ist. Philosophen sind jedoch irgendwie anders. Sie sehen auch noch Fragen, wenn scheinbar alles klar ist.

Ich stelle mir gerade als Philosophin eine solche Frage.

„Was wäre, wenn das Ziel der Menschen, „menschliche Menschlichkeit“ in allen Entscheidungen wäre?“

Auf den ersten Schritt scheint diese Frage leicht beantwortet zu sein. Aber das ist sie ganz und gar nicht.

Erstens: Was ist überhaupt „menschliche Menschlichkeit“?

Zweitens: Was ist ein Ziel?

Drittens: Was ist eine Entscheidung?

Viertens: Warum steht diese Frage im sprachlichen Konjunktiv, einer Möglichkeitsform?

Vor einigen Jahren schrieb ich meine Masterarbeit, die den Titel hat „Was ist „menschlich sein“ unter den Bedingungen der radikalen Lebensphänomenologie von Michel Henry. Herausgearbeitet habe ich eine „menschliche Menschlichkeit“, die sich durch etwas Besonderes auszeichnet, nämlich die Fähigkeit zur „pathischen Ratio“.

Was heißt "menschlich sein"? - Ellen Wilmes

Diese „pathische Ratio“ definierte ich als das „In-sich-selbst-verstehende-Erkennen“. [1]

Setzen wir nun voraus, so wie ich es in meiner Arbeit tat, dass diese Fähigkeit dem Menschen innewohnt, so könnten wir nun sagen, dass diese Fähigkeit zu einer anderen Art von Entscheidungen führen würde. Warum?

Wenn jeder Mensch auf dieser Welt diese Fähigkeit erlernt und ausgebaut hätte, sich selbst zu verstehen und zu erkennen, dann hätte er seinen Logos, verstanden als ein Sammeln von eigensten Erfahrungen und Erkenntnissen[2], eingesetzt für ein „Reif-werden“ der eigenen Spezies Mensch und seinem individuellen Mensch-Sein.

Eine noch so intelligente Maschine gelingt dieser Prozess des „In-sich-selbst-verstehenden-Erkennen“ nicht, weil sie so programmiert sein müsste, dass sie die Gesamtheit aller Wesen in dieser Fähigkeit kennen müsste. Dies würde ihm immer noch nichts nützen, weil diese Maschine nicht wüsste, was sein individuelles „In-sich-selbst-verstehendes Erkennen“ ist. Denn das Besondere der pathischen Ratio ist seine uneingeschränkte Individualität. Jeder Mensch auf dieser Welt wächst in seiner eigenen Zeit, seiner eigenen Art mit dieser pathischen Ratio zu dem, was er als Mensch ist. MENSCHLICH.

Verbunden mit allen Wesen.

Was ist ein Ziel? Für jeden einzelnen Menschen wäre dies ja bereits gesetzt durch das Erforschen des eigenen „In-sich-selbst-verstehenden-Erkennen“. Doch, welches Ziel kennt dann diese menschliche Menschheit für alle?

Das Wort Ziel[3] ist in seiner Wortherkunft ein deutsches Wort. Das heißt, das Volk der Germanen erschuf es. Es steht für eine Absicht. In seiner Wortherkunft ist seine Bedeutung jedoch weiteraus größer. Ein Ziel zu kennen, bedeutet, sich anzustrengen, sich zu bemühen. Es steht für, sorgen für, anbauen und bestellen, für sich auf etwas beziehen. Bleiben wir bei diesen Wortherkunftsbedeutungen des Wortes Ziel, so ergibt sich als logische Folge, dass wir als menschliche Menschheit uns zum Ziele setzen, dass wir uns aufeinander beziehen, dass wir etwas anbauen und bestellen.

Übertragen wir dies auf alle Lebewesen, so bedeutet, dies, dass mit der pathischen Ratio eine Erweiterung stattfindet, die wirklich alles aufeinander bezieht.

Es gibt keine Isolation.

Alles bezieht sich aufeinander. Ein menschlicher Mensch im Sinne eines „In-sich-selbst-verstehenden-Erkennen“ kennt die Grenze eines Ichbezogenen Menschen nicht mehr. Dieser Mensch baut an und mit sich selbst und der gegenseitigen Aufeinander Bezogenheit. Dabei bemüht er sich. Er strengt sich an.

Dieser Mensch bestellt eine Erde, die die gegenseitige vollständige Abhängigkeit kennt, weil er in seinem „sich-selbst-verstehenden Erkennen“ begriffen hat, dass sein Körper und Geist sich aufbauen und gegenseitig bestellen.

Eine Leberzelle greift mit der Darmzelle. Eine Speichelzelle mit einer Magenzelle. Ein Gedanke mit Sodbrennen. Eine Angst mit Schmerzen.

Übrigens wäre dies eine neue Frage: Ist das Wesen Schmerz derzeit vermehrt in Behandlung bei Ärzten?

Doch kehren wir zurück. Aus dem Verstehen dieser wechselseitigen und auf Dauer verbundenen Welt erkennt der menschliche Mensch, dass seine Entscheidungen nur dann zum Ziele aller (z.B. aller seiner Zellen) werden kann, wenn dieses Ziel etwas aufbaut und nicht zerstört, weil dies würde zu einer Selbstbeschränkung führen, die wiederum die menschliche Menschlichkeit vernichten würde.

Diese menschlichen Menschen entscheiden also nicht in Form von „Du sollst“ Regeln im Sinne der Kant’schen Logik, sondern diese menschlichen Menschen entscheiden in der Form der pathischen Ratio. Dies würde bedeuten, dass es kein Abwägen in Form eines Für und Wider geben würde, weil das Abwägen in jedem Menschen selbst stattfände. Ja, es hätte vielleicht zur Folge, dass die menschliche Menschheit mit Folgen konfrontiert würde, die sie nicht kennt, aber ist das nicht immer so? Die pathische Ratio studiert sich jedoch immer wieder neu. Was ist das, was mir nun begegnet in meinem „In-mir-selbst-verstehenden-Erkennen“? Was bin ich selbst unter diesen Bedingungen und Umständen?

Ein Abwägen in Form von „Du sollst“ Regeln führt zu Verletzungen der Menschlichkeit, weil deren „Selbst-Verstehen“ unterbrochen wird. Es werden Regeln gesetzt, die Fragen und Hinterfragen für unnötig erklären, sogar für „unlogisch“, weil die Regel die Antwort ist.

„Dieser Lockdown funktioniert nur, wenn die Deutschen das logische Denken sein lassen.“

Eine derartige Entwicklung führt nicht zu einer Entwicklung des Logos des Mensch-Seins, sondern zu deren Vernichtung. Ein menschlicher Mensch schöpft sein Potenzial in vollem Umfang aus, wenn er das „In-sich-selbst-verstehende-Erkennen“ tut. In diesem Moment bedarf eine Gesellschaft keiner Regeln mehr, weil sie bereits die eine Regel des menschlichen Mensch-Seins ist. Das „In-sich-selbst-verstehende-Erkennen“.

Ja, das bedeutet auch die menschliche Seins-Form zu verändern. Manchmal bis zur totalen Veränderung des menschlichen Menschen, die wir Tod nennen. Jedoch kein Wesen dieser Welt stirbt nicht.

Es ist das Besondere des menschlichen Menschen, dass gerade seine pathische Ratio ihn befähigt, dies im wahrsten Sinne des Wortes logisch als ein „In-sich-selbst-verstehendes-Erkennen“ als ein Sammeln zu erkennen.

In diesem Sinne wünsche ich uns allen eine sich ausbreitende pathische Ratio, die die Lebewesen der Welt nicht vernichten, sondern achten und mit allem leben, so wie es ist, frei von Gier, Hass und Verblendung in der Hoffnung, dass es nicht im Konjunktiv als Möglichkeit besteht, sondern im Indikativ als Wirklichkeit.

Danke an alle Wesen!

Literaturverzeichnis

Tischner Heinrich (2016): Ethymologie deutsch. légein. Online verfügbar unter http://www.heinrich-tischner.de/22-sp/2wo/wort/alt/l/lej.htm, zuletzt aktualisiert am 29.11.2016, 17.30 Uhr.

Wilmes, Ellen (2017): Was heißt „menschlich sein“? Antworten im Anschluss an die Lebensphänomenologie von Michel Henry. Nordhausen: Verlag Traugott Bautz (libri virides, 20).


[1] „Im 25. Jhd. ist der lebendige Transzendentalismus selbstverständlich, indem das „In-sich-selbst-verstehende-Erkennen“ als pathische Ratio aus der Logik eines Lebens als Logos des Lebens verbunden mit dem Lebenswissen gegeben ist.“ Wilmes 2017, S. 118

[2] Tischner Heinrich 2016.

[3] https://www.dwds.de/wb/Ziel, Zugriff am 02.11.2020, 12 Uhr.

Sinfoniekonzert

Sinfoniekonzert am 20. September 2020 – Beethoven im Jahr des Virus – das Landestheater Coburg spielt heute zum ersten Mal wieder ein Sinfoniekonzert.

Wenn der erste Ton im Sinfoniekonzert erklingt, ist das restliche Konzert bei Feinfühligkeit erfühlbar. Ist dieser erste Ton ein Ton, so lässt sich die Freude erahnen, die die weiteren Töne leiten werden. Dieser erste Ton ist deshalb so einzigartig großartig, weil er den Moment eines einzigen Lebens der Welt zum Ausdruck bringt. Dieser Ton zeigt auf so eindeutig vielseitige Weise wie eine Situation, ein Moment, ein Augenblick Welt entsteht, ein Hauch Leben erblüht.

Ein Sinfoniekonzert, egal von welchem Komponisten spannt den Bogen des Lebens auf. Er wird nicht nur sichtbar in Musiker, die Bögen über Saiten bewegen, die in Hörner, Klarinetten und Flöten blasen, sondern dieser Lebensbogen, der ein Weltgeschehen ist, wird erhörbar. Wir können in einer einzigen Sekunde die Vielfalt des Lebens sehen und gleichzeitig hören. Das ist das Wunder eines Live-Konzertes. Keine Fernsehaufnahme kommt hier mit, weil es keinen fühlbaren Gesamteindruck aller Bewegungen im entstehenden Ton des Orchesters gibt. Wir können gleichzeitig den Spuren des Dirigenten und den sich im Rhythmus wiegenden Kopf des Musikers sehen. Wir können die unter dem Stuhl gekreuzten Beine der Violinistin sehen und gleichzeitig das Heben und Senken aller Bögen bemerken. Kein Kameraausschnitt kann uns eine derartige Ganzheit liefern wie ein Live-Konzert. Es sind diese einmaligen leisen unhörbaren Zwischentöne, die zum gemeinsamen Ton anschwellen. Jedes digitale Werk ist immer nur ein Ausschnitt, aber die Live-Aufnahme zeichnet alles auf.

Die Prinzen in Suhl

Wenn ein Dirigent wahrhaftig sein Tun ist, siehst du nicht nur die Musik im Tun des einzelnen Musikers, sondern wird der Ton, der hörbar ist, zu einem Gesamtkunstwerk. Stimmt der Dirigent mit jedem Musiker einen gemeinsamen stillen unhörbaren Ton in Form eines tonlosen Zwiegespräches an, so setzt sich dieser Ton als hörbarer Ton in den gesamten Raum ab. Der Musiker schwingt seinen Bogen, bläst seinen Atem ein, haut die Pauke, zupft die Saiten. Es ist ein bewegtes Tun, das wie ein Meer in Wellen rauscht.

Die Bewegung des Dirigenten ist die Bewegung der Musiker. Die Bewegung der Musiker ist der entstehende Klang. Der entstehende Klang ist hörbar für alle. Johannes Braun, heute Dirigent im Landestheater Coburg setze diese Bewegung wunderbar in den Raum. Ein herzliches Danke.

Ein Sinfoniekonzert ist hörbar gemachte Lebenswelt. Es ist ein Geschehen, das sich aneinanderreiht wie ein Alltagsgeschehen. Der Wecker klingelt. Erste Geschehen. Die Beine schwingen sich aus dem Bett. Ein zweites Ereignis. Die Füße setzen sich auf den Boden. Ein weiteres Ereignen. Die Beine gehen. Das nächste Geschehen. Das Sinfoniekonzert setzt Lebenswelten in Töne um. Der Komponist hört Geschehen in Tönen. Wir „normale“ Menschen sehen Geschehen, aber wir setzen sie nicht in Kunst um. Ein Maler kann dies. Doch ein Komponist setzt sozusagen Bilder, Gedanken, Gefühle in Töne um. Er nimmt die Lebenswelt des lebendigen Lebens eines einzigen Jetzt und baut ein Tonspektrum auf. Der Komponist weiß, wann die Violine einsetzt, wann das Violincello leise oder laut spielt. Er hört die Komposition in sich und sieht die Noten bereits auf dem Papier.

Ein Dirigent setzt in die Komposition seine eigene Position hinein, versenkt sich in die Tonwelt dieses Lebensgeschehens. Er fordert die Musiker auf, dieser Tonwelt zu folgen, sie mitzugestalten, sie zum Leben zu erwecken.

Ein Sinfoniekonzert ist Weltgeschehen – Augenblick für Augenblick. Es ist wunderbar zu sehen, wie kleinste Bewegungen des Dirigenten große Wellen auslösen. Es ist grandios zu hören, wie in jedem Klanggeschehen einer einzigen Sekunde die Vielfalt auflebt und so lebendig daher schreitet, dass es unfassbar scheint, dass dies möglich ist. Aber genau das ist menschliches Leben. In jeder Milli- Sekunde löst sich ein Schwarm von Gestaltungen, die gemeinsam die Welt bilden.

Jeder Musiker spielt sein Instrument. Er ist der Künstler auf seinem Instrument. Jeder Mensch ist ein Individuum und spielt sein eigenes Leben, formt es, gestaltet es. Alle Musiker zusammen bilden das Orchester. Dieses hebt die Einzigartigkeit eines jeden gespielten Tons in ein Gesamtkunstwerk. Genauso heben wir Menschen jedes unserer individuellen Leben in das Gesamtkunstwerk Welt. Wir spielen eine Sinfonie. Das Wort Sinfonie stammt aus dem griechischen und steht für Zusammenstimmen. Ja, wir alle sind Stimmen dieser einen Welt. Wir können ein Konzert spielen, dass die Welt begeistert. Wir können ein Musikstück entwerfen, in dem alle zusammen harmonisch tönen. Harmonisch tönen kann auch schräg sein. Doch wie in einem Sinfoniekonzert, spielt ein jeder trotz seiner Einzigartigkeit ein Gesamtwerk.

Dies scheint oftmals in unserer heutigen Zeit vergessen zu werden. Ein abgeholzter Regenwald kommt nie wieder zurück. Ein untergegangenes Volk steht nicht mehr auf. Eine Tierart, die ausstirbt, wird nicht mehr lebendig. Eine aussterbende Pflanzenart kann Heilung von Krankheiten bedeuten, vielleicht sogar für eine Viruserkrankung. Es ist in diesem einen Ton. In dem wunderbaren Film „Wie im Himmel“ geht es genau um diesen einen Ton. Der Ton, der alle Stimmen zu einem Ton vereint. Dass dies möglich ist, zeigt immer wieder die Musik. Sie lebt es uns vor. Wir sitzen alle in einem Orchester. Ein jeder spielt sein Instrument. Doch nur gemeinsam erschaffen wir ein Werk, dass weltumfassend oder raumumgreifend ist.

Nur alle gemeinsam sind wir eine Menschheit. Sobald nur ein Mensch meint, dass das Instrument nur für ihn allein spielt, ist ein Konzert nicht mehr möglich, ist kein gemeinsamer Ton hervorzubringen. Das Orchester scheitert. Jedes Instrument, jedes Individuum ist bereits von Beginn an Mitgestalter. Niemand kann sich zurückziehen aus dem großen Konzert der Welt, weil jeder Mensch wie jeder Musiker ein Schaffender – ein Schöpfer von Geschehen ist. In diesem Sinne trägt jeder Einzelne Verantwortung für das Gesamtgeschehen. Sobald sich einer dem entzieht und auf Kosten anderer spielt, entsteht ein Misston, den alle hören und sogar sehen können. Wir Menschen sind menschlich, wenn wir den gemeinsamen Ton in einem großen Weltorchester gemeinsam spielen. Niemand hindert uns eine einmalige Sinfonie zu erschaffen – höchstens wir selbst.

Wenn wir zulassen, dass die Sinfonie Menschlichkeit wegen eines Virus aussetzt, dann sind wir bedauerlichweise nicht mehr in einem Sinfoniekonzert, sondern dann sind wir in der Hölle des Lebens der Unmenschlichkeit gelandet, die vielen Menschen das Leben raubt, so wie jetzt vielen Bäumen im Regenwald das Leben genommen wird. Dies setzt eine Musik frei, die Trauer nicht nur kennt, sondern die Trauer ist.

Ich wünsche uns allen, dass die Musik der Menschlichkeit wieder einsetzt, dass eine Sinfonie des Lebens entsteht, die das Leben bewahrt und erhält, egal welches. Denn jedes Leben ist lebenswert und hat in dem Konzert des Lebens seinen Ton, der das Gesamtkunstwerk bereichert und zu dem macht, was es ist. Ein Kunst-Werk aller.

Dieses Kunstwerk kennt kein Ende, auch wenn der Tod mitten drin ist. Er gehört dazu, weil er ist so lebendig wie das Leben – eben nur anders. Auch er spielt seinen Ton in der Sinfonie. Wäre er nicht da, wäre die Sinfonie nicht ganz. Der Tod ist immer mittendrin genauso wie das Leben. Ihn auszuschließen, wäre fatal, weil es der Sinfonie Tonmöglichkeiten nimmt. Doch, das Leben anderer aus Habgier zu nehmen, anderer des Lebens berauben, ist eine Tonmöglichkeit, die die Sinfonie zum scheitern bringen kann. Eine Sinfonie gelingt, wenn alle Beteiligten ihr Instrument mit der größten Kunstfertigkeit spielen dessen sie fähig sind.

Urwald zu vernichten, Ressourcen zu verschwenden lässt die Sinfonie abgleiten in einzelne Töne. Die einzelnen Töne verlieren sich. Der Verlust von Tönen führt zu einer Begrenzung von Lebensweisen. Begrenzte Lebensweisen verhindern Lösungen von Weltproblemen. Denn nur die Vielfalt aller Töne führt zu einer Sinfonie, die weltumgreifend als Einheitlichkeit mit vereinenden menschlichen Lösungen daher kommt.

Die Hand reichen, ist menschlich. Die Hand wegnehmen, ist unmenschlich. Hände tragen gemeinsam mehr. Eine Hand trägt nur wenig.

Spiegelgespräche von Rudolf G. Binding

Mein Freund Thomas schenkte mir dieses kleine Büchlein, das 1949 veröffentlicht wurde, zum Geburtstag. Es gibt nicht viele Bücher, die mich so reizen, dass ich sie nicht aus der Hand lege. Dieses ist eines von ihnen. Eine junge Frau sitzt vor ihrem Ankleidespiegel. Ein Mann holt sie dort einmal in der Woche ab. Sie gehen gemeinsam ins Theater, weil der Ehemann der Frau immer sehr beschäftigt ist.

Eines Tages lässt die junge Frau den Spiegel etwas verrücken!

An diesem Tag sieht sie in ihrem Spiegel eine neue Welt, eine nie gesehene Frau. Der Mann, der sie abholt, beginnt mit ihr die Spiegelgespräche zu führen. Was macht ein Spiegel mit den Menschen? Wozu verführt er? Was verdeckt er? Was ist unsichtbar in ihm?

Wie viele Spiegel sehen wir überhaupt? In welche schauen wir hinein? Welche lehnen wir ab?

Hier ein kleiner Ausschnitt, den ich besonders für unsere Zeit aktueller denn je finde.

„Es käme also darauf an, den Spiegel zu überwinden?“, fragte die Frau. „Darauf käme es nicht so sehr an, also das Spiegelbild, das Bild des Menschen, an das er verhaftet ist, zu überwinden. … Des Menschen Bild ist die Fessel, die ihn an seine Gestalt bindet und ihm die Entwicklung einer höheren nicht erlaubt.“ „Wie meinen Sie das?“, fragt die Frau. „Ich meine, dass das Bild des Menschen als Verhaftung ihn hindern wird, Flügel zu bekommen…. Die Menschheit schwächt sich durch jede Hemmung des Spontanen, des Kraftvollen. … Die Energien, die jenen jungen Adler glichen (Hinweis auf das Aufwachsen junger Adler vorher und wie sie fliegen lernen, E.W.), sind vertan. Die großen Leidenschaften sind ausgestorben. Die brennenden Sehnsüchte sind erloschen. Die hohen Gefühle verlacht. Nur aus einer Schwäche – nothaft, in Not – nicht aus seiner Kraft erhebt sich der Mensch noch; und so vermag er sich schließlich um nichts mehr zu erheben als um seinen täglichen Lohn, um Geld und heimlich elenden Nutzen, um Macht und Machtähnliches, um ein paar Guttaten, die nicht seinem Ausstieg gelten, um dieses elende Menschenwerk unserer Zeit, wo wenige Große sind und Große nur wenige. Die Adern des Zorns und des göttlichen Stolzes sind vertrocknet. Kein Mann errötet mehr vor Scham, nicht mehr zu sein als jeder, und die Liebe macht niemanden mehr heiß. Die Säfte des Blutes sind blaß. Die Triebe des Lebens sind hochgebunden, sonst kröchen sie welk am Boden hin und keiner trüge sich selbst. Die Menschen fühlen sich nur noch im Stützwerk von Rechten und Organisationen stark, und wenn es der einzelne ist: auch er tritt vor den Spiegel und den Spiegel – und wenn er nicht aus Glas ist, ist er aus gläsernen Urteilen anderer gebildet …. Denn das Göttliche ist das Spontane des Kraftvollen ohne Festlegung in die augenblickliche Form …. In diesem Augenblick würde der Spiegel sinnlos.“ (97-103, 1949)

Was ist der Spiegel? Der Spiegel ist jedes und jeder. Er ist das Hinausschauen und sehen des Gewohnten. Auf einer philosophischen Veranstaltung mit dem wunderschönen Namen „Denkinsel“ in Kitzingen, gegründet und aufgebaut von Thomas Schneider, sagte ein Teilnehmer: „Die Wahrnehmung des Menschen ist aber doch ganz objektiv. Dieser Fußboden ist doch orange.“

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Thomas Schneider, Denkinsel Kitzingen, Gespräche auf der Parkbank.

Ich war so verwundert, dass in unserer heutigen Zeit, jemand sagt, dass die Wahrnehmung objektiv sei, da die Wissenschaft seit vielen Jahren belegt, dass kein Mensch dasselbe sieht. Es sind Konventionen, Übereinkünfte, die die Menschen trafen, um miteinander reden zu können, Entwicklungen voran treiben zu können und Inhalte bewerten zu können. Aber dies sollte allen Menschen klar sein, dass die Welt, in deren Spiegel wir heute schauen, nicht objektiv ist, sondern eine auf Konventionen beruhende Welt ist, während die Wahrnehmung jedes einzelnen Menschen so individuell ist wie sein Fingerabdruck. Hier sei der wunderbare Aufsatz von Thomas Nagel, Wie es ist eine Fledermaus zu sein?, zu empfehlen.

Wenn wir die Welt also wieder als das einsetzen, was sie ist, nämlich als Spiegel, dann können die Menschen das Spiegelbild erkennen und überwinden lernen. Solange dieser Spiegel als Realität hinhält, übersieht der Mensch sein wirklich großes Potenzial des Seins. Seine intuitive Kraft, seine Spontanität, seine Öffnung von Festlegungen, seine Auflösungskraft von Konventionen, so dass wieder Leidenschaft entstehen kann. Leidenschaft und „göttlicher Zorn“ für ein menschliches würdiges Sein.

Die Welt der Kunst ist so eine Welt. Sie lebt von der Kraft der Intuition, von der Kraft der Spontanität, von der Kraft der Authentizität. Diese Welt auf ein Minimum zu beschränken, so wie jetzt derzeit, bedeutet die Spiegelbilder erstarren zu lassen, die lebendige Lebenskraft welken zu lassen.

Was macht das mit den Menschen? Die Menschen schauen in das Spiegelbild und sehen eine Realität, die sie für wahr halten, aber wenn sie wirklich hinschauen, kann ihnen das geschehen, was der Frau in Bindings Erzählung passierte: „Ich habe mich das erste Mal in meinem Leben selbst besehen.“

Dieser Moment ist die Wendung vom Spiegelbild weg zur wirklichen Realität. Dieser Augenblick ist nicht unbedingt schön. Die Frau beschriebt ihn so: „Mir ist etwas Unerwartetes, vielleicht Schreckliches begegnet.“

Ja, es ist unerwartet. Ja, es ist ein Schreck. Denn in dem Moment, wo das Spiegelbild fällt, das Bild, das wir alle so gut kennen, dann fallen wir ins Bodenlose, jegliche Sicherheit geht verloren, alles wird fragwürdig, nicht ist mehr fest. Einen solchen Moment zu erleben, bedeutet „Mensch werden und menschliches Sein lebendig auferstehen zu lassen“. Die Festlegung der Form fällt. Jetzt ist alles frei. Die Spontanität öffnet ihre Tore. Jetzt ist der Augenblick der weisen Entscheidung. Halte ich die Tür auf und gehe hindurch oder schließe ich sie wieder, weil dieses Bodenlose, diese Unsicherheit – welcher Mensch kann sie denn ertragen?

Die Frau in der Erzählung entschied sich für einen spiegellosen Tag und sie erzählt: „Nach einem ganz spiegellosen Tag habe ich meinem Gatten wieder in die Augen gesehen: als wäre e r mein Spiegel. Ich habe – wie soll ich es ausdrücken – ich habe mir den Mut genommen, w i e d e r zu lieben.“

Ich wünsche uns allen in diesen seltsamen Zeiten, den Spiegel einen Tag beiseite zu legen und den Mut zu haben, wirklich menschlich Mensch zu sein:

  • keine Zahlen mein Leben bestimmen zu lassen,
  • keinen angstmachenden Nachrichten glauben zu schenken,
  • keine Wenn-Geschichten für Wahrheiten zu halten,
  • keine Distanz für Menschlichkeit zu halten,
  • keine Masken als Natürlichkeit zu betrachten?
  • keine Menschen in Würdelosigkeit allein zu lassen
  • keine kranken und alten Menschen einsam zurück zu lassen
  • keine Menschen ihren Lebensinhalt verlieren zu lassen
  • keinen Kindern die Chance der kindlichen Entwicklung in einer gesunden Gesellschaft nehmen zu lassen
  • und und und.

Den Spiegel einen ganzen Tag überwinden, sich der Unsicherheit, dem Erschrecken stellen, nicht weglaufen, sondern wieder Größe, Göttlichkeit, Menschlichkeit auferstehen zu lassen. Wir erlauben uns, den Spiegel zu verrücken. Es geschieht ein Wunder. Lasst es uns doch einfach tun und zuschauen, was geschieht. Neugierig. Mutig. Menschlich. Fehlerhaft. Aufrichtig. Ja, stolz ein fehlerhafter Mensch mit liebevollem Herz zu sein.

Das nennt sich Vertrauen in die Menschlichkeit. Das nennt sich Liebe zum Leben.

Das Spiegelbild ist immer eine Verzehrung, eine Verdrehung, eine Starrheit, aber wir Menschen sind Menschen, weil wir die Fähigkeit haben, Spiegel Spiegel sein zu lassen, uns umdrehen können und die Wirklichkeit sehen können wie sie wirklich ist.

Große Menschen machten und machen es uns vor.

Ein Al Halladsch, ein Jesus, ein Buddha, ein Mohammed, eine Mutter Theresa, eine Jeanne d’Arc, eine Marie Curie, eine Elisabeth Kübler Ross, eine Maria Montessori.

Und mit Maria Montessori: „Hilf mir, es selbst zu tun“. Ja, da kommen wir nicht drum herum. Wir müssen es selbst tun. Und sollten wir Menschen kennen, die den Spiegel fallen gelassen haben, sollten wir diese aufsuchen, denn sie wissen aus Erfahrung, welche Bedeutung dies für das Leben hat. „Hilf mir, es selbst zu tun.“

Auch der Weg der Zazen-Meditations-Praxis. Hier der Hinweis auf mein Zen-Seminar

am Samstag, den 7. November 2020 von 10-16 Uhr, „Die weise Entscheidung“.

Anmeldung und Informationen 09563 54 90 391 oder info@co-philosophie.de

Was für eine Welt wollen wir? Über die große und die kleine Welt.

In der Regel denken wir bei dem Wort „Welt“ an diese große alles umfassende Welt. Die Welt, die unsere Erde bildet und den gesamten Kosmos mit all seinen Sonnensystemen und Planeten. Die Welt als das Universum. Dazu gehört der Mensch, die Tiere, die Pflanzen, die Atome und der Stuhl, auf dem wir sitzen.

Wann sehen wir welches Universum?

Doch machen wir das Wort „Welt“ einmal so klein wie wir es können. Da ist die Welt unserer Familie, die Welt unserer Arbeit, die Welt der Nachbarschaft, die Welt, in der wir einkaufen gehen und leben. Jetzt machen wir die Welt noch kleiner. Die Welt unserer Familie besteht aus Menschen, Dingen und lebendigem Tun. Es werden Verhältnisse geschaffen. Die Beziehung zwischen Mann und Frau, zwischen Mutter und Vater, zwischen Eltern und Kindern. Das heißt, selbst, wenn wir die Welt ganz klein machen, ist sie schon sehr reich an Geschehnissen und sehr reich an den unterschiedlichsten Beziehungen. Wenn wir dies auf die große Welt übertragen, können wir uns vorstellen wie komplex und vielfältig diese Welt ist.

gebrauchtes Buch – Chorlton, Windsor - – Kunstwerk Körper - Reise ins Innere des Menschen -
Dieses Buch kann ich nur empfehlen, um die Ehrfurcht vor der Größe unseres Körpers und Geistes in Anätzen zu erfassen. Ein unglaubliches Buch. Danke.

Doch wir gehen noch einen Schritt weiter. Wir machen die Welt noch kleiner und offensichtlich geht der Welt, auch wenn wir sie kleiner machen, nichts verloren, sondern im Gegenteil, sie öffnet uns die Augen, wir sehen plötzlich wie reich, vielfältig und komplex sie ist. Durch das Kleiner-machen der Welt begreifen wir die Zusammenhänge in dieser Welt irgendwie eindeutiger. Wir machen die Welt also noch kleiner. Wir nehmen also nur einen einzigen Menschen in dieser Familie heraus. Unser Selbst.

Unser Selbst ist eine Welt. Es ist ein Universum. Wir haben einen Körper, der uns tagtäglich daran erinnert, dass wir essen und trinken, dass wir schlafen und dass wir uns bewegen müssen. Müssen, nicht im Sinne eines Zwanges, sondern der Körper signalisiert es uns. Wir bekommen ein Hungergefühl, verspüren eine Müdigkeit. Manchmal sind diese Gefühle nicht so ganz richtig und wir essen oder trinken etwas, das uns nicht bekommt. Manchmal ignorieren wir das Gefühl der Müdigkeit und arbeiten oder feiern weiter bis in die Morgenstunden. Manchmal nehmen wir sogar eine Pille ein, damit wir es bis zum Schluss aushalten, bis das Projekt abgeschlossen ist oder die Feier beendet ist. Was wir hier im Kleinen an einer Person erkennen, geschieht offensichtlich in der großen Welt auch. Manchmal isst die Welt zu viel der Rohstoffe und bemerkt nicht, dass es ihr nicht guttut. Manchmal schläft die Welt ihre Müdigkeit nicht aus, sondern puscht sich mit elektronischen Welten, die ja jederzeit unbegrenzt alles möglich zu machen scheinen. Auch diese Aufputschpille bekommt der großen Welt nicht gut, weil sie sich um Energiefragen sorgt.

Das heißt, der Rückschritt auf unsere kleine Welt – dieser einzelne Mensch als Welt zeigt uns deutlich wie die große Welt funktioniert. Gehen wir also weiter in dieser kleinen Welt des einzelnen Menschen. Er hat tatsächlich so etwas wie Geist, denn diese kleine Welt kann denken, kann etwas ins Bewusstsein heben. Diese kleine Welt kann auch empfinden. Der Neurophysiologe Antonio Damasio stellt ganz klar fest: „Im Falle der Gefühle sind die Objekte und Ereignisse, die den Vorgang auslösen, innerhalb des Körpers und nicht außerhalb seiner Grenzen.“ (Damasio 2003, S. 110) „Wie faszinierend, dass Gefühle vom Zustand des Lebens in den Tiefen unseres Organismus zeugen!“ (Damasio 2003, S. 165)

Diese kleine Welt, das Sein eines Lebens, ein menschliches Sein, ein menschliches Leben, ein menschlicher Körper und Geist ist also wahrhaftig eine Welt. Sie verfügt über Tiefen, in denen etwas entsteht. Nicht nur Gefühle und Emotionen, sondern eben auch Gedanken.

Damasio: „Sobald wir uns eine Idee von einem bestimmten Objekt machen, [können] [wir, E.W.] eine Idee von der Idee machen und eine Idee von der Idee von der Idee und so fort. All diese Ideenbildung findet auf der Geist-Seite der Substanz statt, die aus heutiger Sicht weitgehend mit dem Gehirn-Geist-Bereich des Organismus gleichgesetzt werden kann.“ (Damasio 2003, S. 250)

Wir wissen aus der Physik, dass unser Körper aus Molekülen und Atomen besteht. Dies macht sich die Biologie und die Medizin/Molekularmedizin zu nutzen. Sie entwickeln z.B. Methoden, diese Moleküle/Atome zu verändern und sie für Behandlungszwecke/Gen-Manipulation/ zu nutzen. (https://www.welt.de/gesundheit/article7175834/Nanopartikel-Maechtige-Waffen-gegen-den-Krebs.html)

Diese kleine Welt als Person als Mensch verfügt somit über alles, was es in der großen Welt auch zu geben scheint. Sie hat riesige Welten in Form von atomaren Welten. Sie hat riesige Mengen an Vorgängen, die in den Tiefen des menschlichen Körper-Geistes zu Empfindungen, Gefühlen und Gedanken führen.

Diese Gedanken bestimmen wiederum die Welt direkt vor mir. Baue ich das Auto so oder lieber so? Kaufe ich dies oder lieber das ein? All diese dann im Außen sichtbaren Entscheidungen der großen Welt entstehen also irgendwie vorher schon in dieser kleinen Welt.

Beide Welten verfügen so über eine fast nicht mehr bemerkbare Verknotung, (im Buddhismus nennt man das- wechselseitige Abhängigkeit) dass wir Menschen immer nur die eine Welt sehen, die so groß und mächtig vor uns steht. Die kleine Welt, die jedoch eigentlich der Auslöser für diese Welt ist, übersehen wir, lernen wir nicht beobachten. Biologen beobachten nur einen kleinen Ausschnitt. Der Mediziner nimmt nur das kranke Organ. Der Virologe nur das kleine Teil, das krank oder gesund macht. (Ja, Viren können auch helfen, Krankheiten zu bekämpfen. https://www.sueddeutsche.de/gesundheit/phagen-bakterien-forschung-1.4558487?reduced=true)

Der Ökonom zeigt Wirtschaftswege unter finanzieller Verlust-und Gewinnserie auf.  Der Politiker sieht sich als Redner und Entscheider einer Gesellschaft. Keiner betrachtet diese Welt als Ganzes.

Das ist so wahr. Wir halten nicht nur sprichwörtlich die Welt in den Händen, sondern unsere Hände sind die Gestalter dieser Welt. Die Hände sind Körper und Geist – eine kleine Welt, die die große Welt bedeutet.

Die kleine Welt als Mensch und Person kann gar nicht anders. Jeder Mensch sieht seine eigene kleine Welt als sich selbst sofort, wenn ein Teil ausfällt, wenn ein Teil plötzlich nicht mehr funktioniert. Jeder Mensch ist darauf angewiesen, dass sein Körper und sein Geist vollständig in ihrer Funktion sind, sonst leidet der Mensch Schmerzen, erkrankt oder gerät in eine psychische Krise.

Übertragen wir dies auf die große Welt. Wenn die große Welt ihre Funktionen nicht vollständig erkennt, bekommt sie Schmerzen und wird krank. Genau dies scheint jetzt der Fall mehr als deutlich zu sein. Manche Erkrankungen schwären in der kleinen Welt stumm vor sich bis sie explodieren. Ist nicht gerade so etwas in der großen Welt passiert? Legt ein Virus, ein so kleines Wesen, dass die Größe eines Nano-partikels hat, nicht genau den Finger in die Wunden einer zivilisierten Gesellschaft?

Genau dort, wo Menschen wie Tiere zusammenleben, infizieren sich mehr Menschen. Genau dort, wo Tiere in Massen hingerichtet werden, infizieren sich Tiere und Menschen. Genau dort, wo Flüchtlinge zusammenkommen in Notunterkünften oder als Obdachlose auf der Straße infizieren sich viele Menschen. Warum schauen wir nicht auf die Wunde, sondern immer nur auf den Finger? Ist nicht die Wunde, die heil werden muss, um den gesamten Organismus, die ganze Welt gesunden zu lassen?

Die kleine Welt weiß darum. Sie weiß, dass sie gesundet, wenn sie dem Organismus das zukommen lässt, was er braucht. Zum Beispiel gesunden Schlaf, eine geregelte Arbeitszeit, ein Spaziergang in der frischen Luft, ein Besuch bei Freunden oder bei der Familie, ein Essen und Trinken in Maßen. Ein berühmtes Beispiel ist Immanuel Kant, der große deutsche Philosoph. Er wollte unbedingt seine wichtigen Bücher schreiben. Was tat er? Er führte in seinem fortgeschrittenen Alter einen genau strukturierten Tagesablauf ein und es gelang ihm, seine Bücher zu schreiben. In der alltäglichen Frau erzählt die junge Frau mir von dem Abgang des Embryos. Die Mediziner hatten schon den Termin für die Ausschabung. Die junge Frau geht nach Hause, beginnt nachzufühlen, stellt fest: „einen Augenblick mal“. Sie vertraut sich und der Abort gelingt körperlich-geistig ganz von allein. Es ist keine Operation mehr notwendig. Sie sagt: Es braucht doch einfach seine Zeit.

Was tut die große Welt? Sie richtet sich nicht nach den Wunden, sondern sie will die Finger bezwingen, die die Wunden reißen. Doch die kleine Welt als Mensch weiß, dass wir die Finger nicht verhindern können. Das Auto fährt gegen den Baum, warum und weshalb auch immer und plötzlich ist der geliebte Mensch nicht mehr da. Das Virus ist da. Die Krebszelle hat sich im Bauch festgesetzt und vermehrt sich. Der geliebte Mensch oder ich selbst muss über das Sterben und den Tod nachdenken. Die Versicherung bezahlt kein Geld, obwohl die Brandursache klar ist. Der einzelne Mensch weiß, dass er die Finger nicht aufhalten kann. Sie treffen ihn, ob er das will oder nicht.

Aber, er weiß, dass er die Wunden, die daraus entstehen, gesunden lassen kann. Das Leben läuft ohne den Geliebten weiter. Die Versicherung zahlt nach Rechtsstreit. Die kleine Welt tut, was zu tun ist. Sie packt die Wunde an und hadert nicht mit dem Finger. Die große Welt derzeit scheint nur noch auf die Finger zu gucken und vergisst die Wunden total.

Aber die Wunde ist das, was zu Gesunden ist. Die Wunde, die die Vernichtung von Rohstoffen in der Welt bedeutet. Was tun wir, um die Rohstoffe dort zu lassen, wo sie sind? Die Wunde der Massentierhaltung und die Vernichtung von Urwäldern. Was tun wir, um dies zu verändern? Die Wunde der Kriege, an der Waffenindustrien verdienen und Menschen in die Flucht bringen. Was tun wir, um dies zu wandeln? Die Wunde von diktatorischen Ansätzen, die die kleine Welt als einzelne Menschheit unterdrücken und in eine Sichtbarkeit zehren, die auf Daten beruht. Was tun wir für eine demokratische weltbürgerliche Gesellschaft? Die Wunde von Billigarbeitern und modernem Sklaventum in Form von Zeitarbeitsfirmen, wo es doch um Menschen geht, die so sind wie wir?

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Die kleine Welt als Mensch weiß um die Gesundung der eigenen Wunden. Der Körper, wenn wir ihn lassen, übernimmt die Gesundung sogar ganz allein. In der kleinen Welt nennen wir dies Selbstheilungskräfte. (https://www.tcmklinik.de/therapien.html) In der großen Welt nennen wir es Permakultur. (www.perma-kultur-partner.de)

Wenn wir die kleine Welt als Basis jeder Welt nehmen, lernen wir daher nicht nur die kleine Welt von innen und außen, Körper und Geist in all seinem universellen Reichtum begreifen, sondern wir begreifen die große Welt auch.

Daher ist das Üben der Meditation des Zazen/ die Kontemplation so wertvoll. Wir lernen Körper und Geist, wir lernen diese kleine Welt zu beobachten und sie gesunden zu lassen. Wir greifen nicht ein, sondern lassen es geschehen. Wir schaffen in der kleinen Welt keine Gesetze, die ihr die Luft zum Atmen nimmt. Setzten wir in der kleinen Welt eine Maske auf, leider tun dies viele, so könnten wir nicht sehen, was sich in der kleinen Welt tut. Wir würden ihr die Lebensbedingung nehmen, denn sie braucht die Luft zum Atmen. Sie braucht das Sehen, um zu erkennen und zu erfahren. Die kleine Welt als einzelner Mensch als Körper-Geist erschafft keine Gesetze, die ihr verbieten, Körper und Geist zusammen anzugreifen und zu bearbeiten, um zu gesunden.

Körper und Geist in das Gleichmaß bringen. Gesundheit ist Gleichmaß. Im Kleinen wie im Großen. Jedes Ungleichgewicht schadet dem gesunden ganzen Raum.

Eine Reduzierung eines Weltproblems auf eine nationale Größe erschafft keine Lösung für eine Welt-Zivilisation, sondern erhöht die Anzahl der Probleme der Welt über die Dimension. Ein weltliches Problem kann nur gesunden, wenn der ganze Körper und der ganze Geist dieser Welt, egal ob in der kleinen oder in der großen Welt gemeinsam daran schaffen, d.h. Wo ist Frieden? Wo ist Hass und Blind-Sein genau hier in dieser kleinen Welt? Erforsche ich dies, weiß ich wie es in der großen Welt funktioniert.

Vereinzelung, so wie Distanz schafft keine Lösungen, sondern untermauert sie, festigt sie. Wenn jeder einzelne Mensch auf dieser Welt begreift, versteht, erkennt, erfährt, dass seine Gesundung die Gesundung der großen Welt ist, dann braucht es keine Masken, keine Distanz, sondern dann braucht es Angesicht zu Angesicht und Nähe.

Wenn die einzelnen kleinen Welten zu einer Welt geworden sind, wie Körper und Geist gemeinsam in einem Menschen, dann steht eine Welt auf, die von „compassion“ getragen ist. In einer solchen Welt gibt es keinen Ausschluss, weil bereits alles dazu gehört. In einer solchen Welt gibt es das Bemühen ein Gleichgewicht zu halten.

In einer solchen Welt greift nicht die Angst, sondern in einer solchen Welt greift das Mitgefühl, das Für-ein-ander-da-sein. Da ist nicht Nation, sondern Universum. Da ist nicht Ich-allein, sondern Wir-zusammen. Da ist nicht Bestrafung, sondern Freiheit. Da ist nicht Eingesperrt-sein, sondern Freiraum. Für eine solche Welt wie die kleine Welt, die der großen Welt zeigen kann, was Gesund-sein heißt, werbe ich, weil ich diese kleine Welt mit ihrem unendlichen Reichtum so liebe.

Europäische Werte - TeamFreiheit.info - Humanistischer ...
Die Basis die kleine Welt – ein Mensch – sein menschliches Denken. Ich ergänze – das ganze menschliche Sein.

Literaturverzeichnis

Damasio, Antonio R. (2003): Der Spinoza-Effekt. Wie Gefühle unser Leben bestimmen. München: List.

Brief an Angela Merkel

                                                                                                                                                            28. April 2020

Sehr geehrte Frau Angela Merkel,

Sie sind seit dem 22. November 2005 unsere Bundeskanzlerin. Sie sind eine gebildete Frau, von der ich hoffe, dass Sie dies nicht im Angesicht der vielen Jahre in einem Machtgefüge vergessen haben.

Wie Sie dem Briefkopf entnehmen, bin ich Philosophin, aber dies war ich nicht immer. Ich werde in diesem Jahr 60 Jahre alt. Ich habe als junge Frau von 18 Jahren den Beruf der Kinderkrankenschwester erlernt, arbeitete 12 Jahre in diesem Beruf, vor allem auf einer Frühgeborenen Intensivstation, d.h. ich weiß, wie es in Krankenhäusern zugeht. Über den zweiten Bildungsweg machte ich mit 32 Jahren Abitur und studierte auf Lehramt für die Sek I Mathematik, Ökotrophologie und Pädagogik. In meinem Lehrerberuf wurde ich noch Ausbilderin für Mathematiklehrer am Studienseminar. Auch diesen Beruf übte ich 12 Jahre aus. Eine Erkrankung führte dann zur Frühverrentung. Dennoch gab ich nicht auf. Ich nahm das Studium der Philosophie auf und promovierte 2018 an der Karls-Universität in Prag. Das heißt, Sie haben es hier mit einer Person zu tun, die ebenfalls gebildet ist. Diese Bildung erweiterte ich in den letzten 15 Jahren durch eine zen-buddhistische Praxis, die mich zusätzlich die Weisheit lehrte.

Daher erlaube ich mir die folgenden Worte. Es war einmal ein Land, in dem ein Mädchen groß wurde, das für Demokratie und Meinungsfreiheit stand. Es war einmal ein Land, in dem eine Frau ihren Berufsweg ging mit freier Entscheidungsmöglichkeit. Es war einmal ein Land, in dem eine Frau, die alt wurde auf etwas traf, dass sie in der Schule gelernt hatte und mit dem sie sich viele Jahre in Form von Büchern auseinandersetzte. Ihr Schwiegervater war Stalingradkämpfer gewesen und sieben Jahre in sibirischer Gefangenschaft. Sein Leben verdankte er dem spontanen Einsatz einer jüdischen Ärztin, die ihm Adrenalin in sein stillstehendes Herz spritzte. Durch ihn wusste sie von einem anderen Land.

Jetzt ist ein Land zu sehen, dass dem der Vergangenheit in der jungen Erwachsenenzeit meines Schwiegervater ähnelt. Es wurden Gesetze durch die Legislative gebracht, die es ermöglichen, den Bürgern des Landes etwas von ihrer Freiheit zu nehmen. Sie bekommen Verbote, und bei deren Nichteinhaltung wird die polizeiliche Gewalt benutzt und eine Bestrafung eingeführt.

Den Menschen wird wie eine Art Gehirnwäsche jeden Abend auf allen Kanälen im Fernsehen zur Hauptsendezeit eine Sondersendung zugemutet, die Berichte zeigt, die mit keinem einzigen Wort wissenschaftlich belegt sind. Wo sind die Forschungen der Wissenschaft der letzten 100 Jahre?

Die Soziologie erforschte, was mit Menschen passiert, die in Isolation leben; häusliche Gewalt, Suizid, Scheidungen. Die Pädagogik erforschte, was mit Kindern geschieht, wenn sie keinen Austausch zum Wachsen und Reifen in heterogenen Gruppen haben. Die Philosophie weist in vielfältiger Literatur auf Staatengebilde und deren Aussehen und Wirkungen hin. Die Psychologie erforschte Menschen, die keine Aufgabe mehr haben, die sich verlieren – Viktor Frankl ist da der Name, der hier gerade besonders passt. Dazu gehören Untersuchungen über Suizid-Raten und Hospitalismus. Die Ökologie weist auf die Folgen der Ausbeutung hin. Die Biologie (Maturana und Varella, Der Baum der Erkenntnis) weisen nach, dass nicht das Milieu die Zelle bestimmt, sondern die Zelle nimmt sich, was sie braucht. Wer ist jetzt diese Zelle, die sich nimmt? Wo sind diese wissenschaftlichen Erkenntnisse vom Menschen jetzt?

Die WHO legt folgende Definition für Gesundheit fest:

„Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.“

Derzeit, wo wir alle eine besonders gute Gesundheit brauchen, wo die Angst vor Ansteckung wie ein Feind umherzieht, wird uns das körperliche Wohlergehen genommen (z.B. die Sportvereine und Fitnessstudio-Besucher/Innen), das geistige Wohlergehen (z.B. Theaterbesuch, Kino, Konzerte, Bibliotheken) und das soziale Wohlergehen (z.B. Vereinsbesuche, Nebenjobs als Kellner, Zimmermädchen, Kinderfrau, mit Freunden einen Restaurantbesuch, in Urlaub fahren…).

Was passiert hier? Ist die Antwort in einer digitalen Welt zu finden? Macht sich der Mensch selbst zu einer künstlichen Intelligenz? Geld brauchen wir nicht mehr. Es gibt ja Bitcoins. Notare und Ärzte brauchen wir nicht mehr. Es gibt ja Blockchain und die digitale Antwort auf alle Gesundheitsfragen. Wir brauchen auch kein Kino mehr, weil es gibt ja Stream und einen Anbieter dafür. Wir brauchen keine Konzerthalle mehr, weil es gibt ja Youtube. Ein Zukunftsszenario des Club of Rome für das Jahr 2052 legt folgendes auf der Seite 383 dar: „Erziehen sie ihre Kinder nicht zu Naturliebhabern. […] Wenn sie ihrem Kind beibringen, die Einsamkeit der unberührten Wildnis zu lieben, wird es etwas lieben, das es immer seltener geben wird. [Wenn ihr Kind das nächste Mal am Computer sitzt, sagen sie lieber nichts.]“

Wollen Sie eine derartige Welt? Jetzt scheint eine Entscheidung zu fallen. Hält uns die Angst vor der Fremdheit eines Virus in Griff, der bis jetzt – egal, wo die wirkliche Wissenschaft zu Wort kommt -, als nicht gefährlicher als andere Influenza-Viren eingestuft ist, so rutschen wir in eine Welt, die an die Zeit von 1930 erinnert.

Ich wurde 1960 geboren. Ich erlebte diese Zeit nicht. Jedoch die Arbeit in der Meditation lehrte mich die Schatten und das Licht des Menschen zu sehen. Derzeit finde ich es mehr als bedenklich, was hier gerade in diesem Land geschieht, in dem ich geboren wurde, in dem ich 60 Jahre in Freiheit lebte und in dem ich nun mit Freiheitsberaubung, Ausgehverbot und Versammlungsverbot sitze. Lautsprecher fuhren durch die Straßen und verboten das Hinausgehen. Klingelt es da bei Ihnen nicht? Sind Sie schon so weit von der Basis weg, von deren Existenzen jetzt tausende zu Grunde gehen. Statt Billionen in Sondergelder zu stecken, wäre, wenn es wirklich sinnvoll hätte sein sollen, dies ein Gesetz für die Grundsicherung gewesen. Wichtiger als ein Gesetz für die Ermöglichung von Versammlungsverbot und Ausgehverbot – Gesetze gegen unser Grundgesetz!

Wissen Sie eigentlich wie das ist, wenn Sie am Ende des Monats nicht mehr wissen, wie Sie ihr Brot bezahlen sollen? Wissen Sie eigentlich wie es ist, wenn Sie am Anfang des Monats nicht wissen, wie sie die Miete bezahlen sollen oder die Versicherung? Wissen Sie, dass es Frauen gibt, die drei oder vier Jobs haben, um über die Runden zu kommen? Sie nehmen diesen Menschen Ihr Leben. Selbst, wenn Sie alle Menschen finanziell unterstützen könnten – was Sie nicht können – fallen Tausende durch das Raster. Es bleibt die wissenschaftliche Erkenntnis im Raum stehen, dass der Mensch eine Aufgabe braucht.

Sie nehmen den Menschen derzeit nicht nur ihre existenzielle Grundlage, sondern auch die Menschliche. Dies klage ich an!

Ich erwarte von Ihnen als gebildete Frau, dass Sie sich Ihres eigenen Verstandes bedienen und diese grundgesetzverachtenden Gesetze so schnell wie möglich aufheben, dass Sie den Menschen ihre Menschlichkeit zurückgeben. Ein Mensch in Isolation ist manipulierbar und verachtet. Nur Menschen in einer Gemeinschaft haben Siege und Erneuerungen davongetragen. Die Wiedervereinigung vor 30 Jahren zeigt dies mehr als deutlich.

Stellen Sie sich die Fragen:

Wo wollen Sie leben?

Wie wollen Sie leben?

Was wollen Sie sein?

Wollen Sie wirklich den Schaden so vergrößern, dass die totalitäre Macht gewinnt?

Kennen Sie die Verlierer-Seite oder nur die Gewinner-Seite?

Von was lassen Sie sich manipulieren?

In diesem Sinne grüßt Sie eine gebildete und weise Frau, Philosophin und Zen-Lehrerin, die sich auf Ihre Antwort freut.

Mit freundlichen Grüßen